haunted - Dhikr
von Jonë Zhitia
Text Dhikr, gelesen von Jonë Zhitia.
I. Das Feuer
1. Stav sagt: Wir hätten nicht geboren werden dürfen
2. Ich war niemals so nah an wer wir waren.
3. Ich war niemals so nah an der Wahrheit des Wortes.
4. Mit jedem Wort trage ich mich selbst zu Grabe.
5. Was sich beschreiben lässt, kann auch geschehen. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr beschreiben.
6. Es braucht viele Hände, um einen Menschen zu brechen.
7. Ich sage zu Stav: Uns geht der Tod voraus, wir sind seine Kinder.
8. Der Geburt geht die Zusammenkunft von zwei Menschen voraus.
9. Die Großväter meiner Mutter lernten sich auf dem Schlachtfeld kennen. Zwei Soldaten, die zwischen den Leichen Freunde wurden und ihre Kinder verheirateten.
10. Der Großvater meines Vaters verlor seine Familie, als serbische Miliz sie ihm entriss und in die Türkei deportierte. Mein Großvaters war ein Sohn der zweiten Familie.
11. Die Toten, die mir voraus gegangen sind, haben mich geboren. Sie liegen vor mir.
12. Ich hätte nie eine der Toten sein können, ich bin ihre Konsequenz.
13. Ich sage zu Stav: Der Tod ist unsere Heimkehr. Es ist die Trennung von ihm, die uns Schmerzen bereitet.
14. Wie viele Tote müssen der Geburt eines Kindes voraus gehen?
15. Vater spricht von den Toten, wenn er von den Freunden spricht. Mutter spricht von den Toten, wenn sie von der Familie spricht.
16. Mutter floh vor dem Tod zu dem Tod.
17. Ich frage: Wie schreibe ich von dem Tod in der Sprache meines Todes?
18. Ich frage: Wie schreibe ich gegen die Vernichtung an, wenn es ihre Sprache ist, der meine Worte gehören?
19. Senthuran antwortet mir: diese Sprache hat ihnen noch nie gehört.
20. Die Toten sind, wie sie waren, als sie waren, bevor sie waren.
21. Ich sage zu Stav: Ich küsse zärtlich den Madenfraß und teile mein Grab mit dir.
22. Wir sind nicht nur die Konsequenz der Vergangenheit, wir sind Vorboten der Vergangenheit.
23. In Wien singen serbische Männer, 2022: „Töte, schlachte, auf dass es den Albaner nicht mehr gibt“
24. Die serbische Nachbarin saß in unserem Wohnzimmer und erzählte, in der Schule wurde ihnen beigebracht, wir seien Tiere. Und Mutter hat ihr erklärt, dass sie uns keine Käfige gaben, nur schlachteten.
25. Es gab nie eine Möglichkeit diesen Dingen anders zu begegnen.
26. Die Worte, die uns vorausgingen, stehen unseren Händen noch bevor.
27. Die Tage, an denen ich das Video stoppe, um das Weinen besser zu hören. Die Tage an denen ich das Video stoppe, um besser weinen zu können.
28. Meine Worte brechen das Schweigen nicht. Meine Worte halten gegen die Leugnung an.
29. Jedes Wort ist eine Leerstelle. Die unerzählte Geschichte, eine Wiederholung.
30. Mit jedem Wort trage ich mich selbst zu Grabe.
31. Ich war niemals so nah an der Wahrheit des Wortes.
32. Ich werde den Toten nicht gerecht.
33. Stav sagt: Das Unbegreifliche lässt sich nicht begreiflich machen. Nur davon können wir erzählen.
II. Die Anhörung
34. Wenn sich der Himmel spaltet, dunkelrot wie verbranntes Öl, an diesem Tag wird kein Dschinn und kein Mensch nach seiner Schuld gefragt.
35. Ich finde die Leichen in Videos. Verstreute Leichen. Leichen in Gräben. Eine Leichenspur zu einem Leichenhaufen.
36. Sie versucht ihre dreijährige Tochter zu trösten, die im Kindergarten keine Freunde findet. Sie versucht ihren Ehemann zu trösten, dessen Freunde ermordet werden. Sie versucht ihre Eltern zu trösten, deren Sohn ermordet wurde. Mutter ist untröstlich.
37. Wenn sich der Himmel spaltet, dunkelrot wie verbranntes Öl, an diesem Tag wird die Obergrenze geschlossen.
38. Am Grab meines Onkels sagt Mutter: Dieser Moment gehört mir.
39. Am Grab meines Onkels sagt Mutter: Dieser Moment gehört den Toten.
40. Ein serbischer Journalist sagt: „Kosova is the cradle of Serbian culture and Serbian spirit. And Serbs must defend their past in order to have their future.“ Das Schuldgeständnis spricht keinen Täter frei.
41. Das was wirklich ist, entzieht sich dem, was möglich scheint.
42. Der Mensch, der flieht, ist nicht derselbe, der geflohen ist. 43. Die Flucht kennt nur den Anfang. Sie mündet im Tod. Sie kann nur im Tod beendet werden.
43. Die Flucht kennt nur den Anfang. Sie mündet im Tod. Sie kann nur im Tod beendet werden.
44. Die Liebe zu den Geflüchteten gilt ihren Leichen.
45. Die Liebe zu den Geflüchteten gilt ihren Käfigen.
46. Die Obergrenze definiert auch die, die sie nicht meint. Die Obergrenze verläuft zwischen den Lebenden und den Toten. Zwischen dem was Mensch ist und was Tier wird.
47. Großmutter sagt, sie weint nicht für die Toten. Sie sind frei. Sie sind heimgekehrt. Die Lebenden beweint sie. Sie sind nicht frei am Leben zu sein.
48. Weil Großmutter nichts von nichts hatte, sprach Gott zu ihr ohne Sprache.
49. Ich sage zu Stav: Das fremde Wort Gottes, das der Mensch sich nicht selbst sagen kann.
50. Nicht versuchen es zu verstehen, sondern es solange betrachten, bis das Licht heraus bricht.
51. Als Kind dachte ich, die einzige Art zu sterben, wäre erschossen zu werden.
52. Wenn Zootiere plötzlich einen Anspruch auf einen Platz unter den Menschen erheben, dann sind eine Handvoll von ihnen bereits unerträglich viele.
53. Es reicht nicht, die Käfige aufzubrechen, die Menschen müssen auch aufhören Affen zu sein.
54. Vor einer Woche erinnerte ich mich an meinem Namen und spuckte ihn aus.
55. Ein Name, der nicht meiner ist, der auf die Wunde gedrückt wurde, als man mir meinen Namen entriss.
56. Ein Name, der meiner ist, aber solange nicht meiner war, dass er nicht mehr meiner sein kann.
57. Das Brechen meines Schweigens, sein Ausbrechen, aus sich selbst heraus, in das Deutsch.
58. Das Einzige, das ich dem Deutschen zu geben habe, ist sein Tod.
59. Die Antworten, die mir mein Mund schuldig bleibt, begleicht das Wort.
60. Mutter sagt zu mir: Wir gehorchten nicht, weil die Erlösung nur den Toten gehört.
61. Ich trage nur das Gewicht meines Fleisches und meiner Knochen.
62. Die Toten brechen meine Schultern, sie sind nicht breit genug, um Märtyrerin zu sein.
63. Die Sonne und der Mond entsprechen genauen Berechnungen. Sie begegnen sich, wie sich auch das Süßwasser und Salzwasser begegnen.
64. Die Toten in ihnen entsprechen nur ungenauen Schätzungen.
65. Die Sonne und der Mond entsprechen genauen Berechnungen. Sie begegnen sich, wie wir den Toten nie begegnen. Noch nicht begegnet sind.
66. Ich sage zu Stav: Hinnahme und Hingabe. Hinnahme der Hingabe. Die Hingabe hinnehmen: bedeutet sich zu ergeben. Sich den Toten zu geben.
III. Die Stimme
67. Ich wurde den Maden versprochen. Mein Körper gehört ihnen.
68. Der Erdkreis ist eine Anhäufung von Fluchtpunkten. Jeder Ort, ist nur ein Aufenthaltsort, ein Fluchtpunkt, der mit mindestens einem weiteren, nächsten Fluchtpunkt verbunden sein muss.
69. Der Ort meiner Geburt ist der erste Fluchtpunkt meiner Schwester. Der erste Punkt zu dem sie, als Säugling, getragen wurde.
70. Der Ort der Geburt meiner Schwester ist ein fast nicht entflohener Punkt.
71. Mutter trug meine Schwester ins Exil. Mutter trug mich im Exil aus.
72. Mutter brachte mich vom Tod in das Sterben, brachte mich zur Welt.
73. Mutter empfing meine Schwester, als der Boden unter ihren Füßen noch kein Fluchtpunkt war. Mich empfing sie, als sie den Boden unter den Füßen bereits verlor.
74. Ich flüstere das Gebet in meine Brust. Ich bewahre das Wort.
75. Die Maden werden meine Brust weiten und mir die Last abnehmen. Wenn ich mit allem fertig bin, begehre ich ihre Nähe. Sie werden meine Gebete erhören.
76. Auf der Rückseite des Wortes ist der Boden des Wortes, dort liegt mein Grab.
77. Ich sage zu Stav: Die Worte sprechen zu meinem Tod, er erwartet meine Heimkehr.
78. Die Maden werden mir meinen Namen offenbaren, wenn sie mir meinen Namen nehmen.
79. Es braucht viele Hände, um einen Menschen zu brechen.
80. Es braucht die Eier von nur einer Made, damit ich heimkehren kann.
81. Stav sagt: Ein versprochenes Territorium wird zum Ende, sobald es sich erfüllt. Es ist ein grausames Versprechen. Nur jene ohne Territorium dürfen davon träumen.
82. Das Ende der Menschheit ist der Beginn des Volks.
83. Als man die Albaner_innen befreite, zündeten sie die Häuser der Rom*nja an.
84. Ich trage die Toten in das Deutsch. Ich biete die Toten den Maden dar.
85. Die Maden gebären ein neues Kind.
86. Das Kind ist hart. Es ist eine tote, schwarze Masse.
87. Wenn das Kind wächst, zerreißt es meine Gebärmutterwände.
88. Das Kind der Maden, ist die einzig unbefleckte Empfängnis.
89. Die Natur meiner Existenz ist eine parasitäre. Sie nährt sich von den Toten.
90. Tötet und Schlachtet. Die Toten werden die Maden nähren.
91. Die Toten werden uns gebären und unsere Heimkehr erwarten.
92. Wir werden die Obergrenze passieren und ihr Sterben fortsetzen.
93. Wir fürchten den Tod nicht, wir verdanken ihm unser Sterben.
94. Die Sonne und der Mond entsprechen genauen Berechnungen. Sie begegnen sich, wie wir den Toten begegnen werden.
95. Wenn sich der Himmel spaltet, dunkelrot wie verbranntes Öl, an diesem Tag wird jeder Tote gezählt werden.
96. Ich war niemals so nah an wer wir sind.
97. Ich war niemals so nah an der Wahrheit des Wortes.
98. Mit jedem Wort trage ich mich selbst zu Grabe.
99. Stav sagt: Wir hätten nicht geboren werden dürfen.