haunted - Die Geister meiner Familie
Text Die Geister meiner Familie, gelesen von Thị Minh Huyền Nguyễn.
1: Verdrängen & Verschweigen
Ich denke über die Geschichten nach, die niemals erzählt werden. Die meinem Bruder und mir auch bisher nicht erzählt wurden. Ich weiß so wenig, weil meine Eltern selektiv sind, in dem, was sie mir berichten. Ich habe das Gefühl, sie selbst möchten vergessen. Es scheint ihnen schwer zu fallen, über die Vergangenheit zu reden. Wenn sie es tun, geht es um die schwierige Zeit damals oder um die Streitereien in der Familie. Bis heute weiß ich kaum etwas.
Sie wollen es nicht. Wieso denn alte Dinge aufwühlen? Meiner Mutter Thơm nach, gibt es nichts Glückliches zu berichten. »Con ơi, wieso fragst du? Meine Mutter starb früh. Ich ging alleine nach Tschechien und wir waren arm. Es war hart, wir hatten kein Geld, als wir nach Deutschland kamen. Wir bangten immer vor einer Abschiebung.« So ähnlich reagiert mein Vater Thành. »Ach, die alte Zeit, es gibt nichts Besonderes.«So sitze ich dann wie letzten Sommer mit meiner Mẹ (Mama) oder meinem Bố (Papa), die geschieden sind, für ein paar Momente am Küchentisch oder im Café.
Ich lasse sie erst einmal reden. Oft sind es belanglose Themen. Nach einer Weile setze ich wieder an und stelle ihnen die Fragen nach der Vergangenheit. Wie war dein Leben in Vietnam? Mit wem aus der Familie hast du dich am besten verstanden? Es dauert, bis sie sich öffnen können. Bis sie von Vietnam und der Zeit vor der Ausreise reden. Ich glaube, in diesen Momenten sind sie innerlich zerrissen, vielleicht sogar ohnmächtig. Ihre Aussagen sind wie Puzzleteile, die nur teilweise zusammengehören.
Wenn ich an die Geister meiner Familie denke, denke ich an all jene, zu denen ich keinen Zugang mehr habe. Sie sind verstorben, vergraben und verschollen. Ich denke an ihre Biografien und all das Wissen, das mit ihnen verstorben, vergraben und verschollen ist. Ich denke an die Großeltern, Onkel und Tanten, die ich nie getroffen, nie kennengelernt und somit nie gesehen habe. Ich frage mich, wie meine Verwandten wohl gelebt haben, wie ihr Alltag aussah oder in welchen Kreisen sie sich aufgehalten haben. Wen haben sie geliebt und wer waren ihre engsten Bekannten? Jahre später, nachdem auch meine letzten Großeltern verstorben sind, merke ich, wie schwer es mir fällt, verbunden mit meiner vietnamesischen Familie zu sein. Ich war nur zweimal in meinem Leben dort und je älter ich werde, desto mehr wünsche ich mir, mehr Zeit dort zu verbringen. Zeit aufzuholen, die schon verstrichen ist. Während es tolle und herzliche Momente aus der Kindheit gibt, gibt es auch eine tiefe Sehnsucht in mir.
Mit all den Verstorbenen sind auch ihre diversen Lebensrealitäten verschwunden. Vergraben, teilweise in ihren Heimatorten neben anderen Famimitgliedern oder herumirrend in den Wäldern und Bergen Vietnams. Die Leiche meines ersten Onkels väterlicherseits wurde bis heute nicht gefunden. Solange er nicht mit seiner Familie vereint ist, wird seine Seele noch weiter umherwandern. Er wurde mit 17 oder 18 ins Militär eingezogen. Auch hier ist die Zahl ungewiss, wie die Geburtsurkunden damals in Vietnam. Es war nicht so wichtig, Dokumente wurden damals absichtlich gefälscht. »Ở nhà người đánh mỹ,« so teilt es mir Bố mit. Sein großer Bruder kämpfte im Süden gegen die US-Amerikaner. Die Familie weiß nicht, wie und wo er gestorben ist. Ich spürte die unterdrückte Trauer und Wut meines Bốs, als er davon sprach. Er war in diesem Moment wieder Kind, der kleine Junge, der den ältesten Bruder kaum kannte. Wie viele Geister es wohl gibt, wie viele solcher Seelen, die nicht zur Ruhe kommen? »1975-1990, das waren die schweren Jahre nach dem Krieg.« Mein Bố fügte hinzu: »Es gab kaum Reis, man hat ein bisschen Mais, Kartoffeln und Nudeln gegessen. Das Land musste wieder aufgebaut werden.« Letztendlich sind es Fragmente, denn mal schweigen meine Eltern, mal berichten sie. Es scheint, als ob sie mit diesem Kapitel abgeschlossen haben und es einfacher ist zu schweigen. Auch in mir sträubt es sich, ich bin ungeduldig, fühle mich fehl am Platz, denn die Erzählungen meiner Eltern sind nicht klar, teilweise ungenau. Während ich hier sitze und das hier niederschreibe, versuche ich dennoch die Schnipsel zusammenzufügen:
2: Ông Ngoại
Ông Ngoại, das ist der Vater meiner Mutter, wurde über 80 Jahre alt. Er arbeitete bei der Stadt in Nam Định, half hier und da aus. Es war eine schwierige Zeit nach dem Krieg, sagt meine Mẹ. Nachdem Bà Ngoại, also seine Frau, gestorben ist, ging er in Rente und kümmerte sich um das Zuhause und die Kinder. Er kümmerte sich um meine Mutter und ihren kleinen Bruder. Beide waren die Jüngsten und wohnten noch daheim. Ich habe ihn ein einziges Mal getroffen, da war ich acht oder neun Jahre alt. Es gibt auch ein Foto mit uns zusammen. Ich sitze neben ihm mit meinem maßgeschneiderten traditionellen Zweiteiler, ich weiß nicht, ob es ein Kinder Áo dài ist, ich habe ihn auf dieser Reise genäht bekommen. Ich lächle in die Kamera. Es ist eines dieser obligatorischen Familienbilder, die meist gezwungen sind, weil plötzlich ein Fotoapparat vor dem Gesicht auftaucht. Mir gegenüber schien Ông Ngoại liebenswert und angenehm. Mit solch einem Gefühl sitzt er auch im Arm mit meinem Cousin, der sich an ihn schmiegt. »Er mochte mich, Ông Ngoại behandelte mich gut, er nannte mich immer con gái diệu, das heißt Prinzessin,« erklärte mir Mẹ. »Weil wir die Kleinsten zu Hause waren, schliefen wir noch bei unseren Eltern im Bett.« Ein wohliges Gefühl kommt in mir auf, als mir meine Mẹ das am Telefon erzählt.
3: Bà Ngoại
Bà Ngoại, die Mutter meiner Mẹ, wurde im Vergleich zu Ông Ngoại, nur 49 Jahre alt. Mẹ war gerade einmal 15 Jahre alt, als sie verstarb. Sie wiederholt das immer wieder. »Sie ist früh gestorben, ich war noch jung.« Bà Ngoại hatte Magenbeschwerden und ging für ein Jahr lang immer wieder ins Krankenhaus zur Behandlung. Sie erhielt dort Medikamente, die sie nicht vertragen hatte. Nachdem sie die neuen Medikamente eingenommen hatte, war sie 2-3 Monate schwer krank. Innerhalb von wenigen Tagen verstarb sie im Krankenhaus. Bà Ngoại war aus ihrer Familie die einzige Tochter und die Zweitgeborene. Es waren noch drei weitere Söhne im Haus, die sie überlebten. Im Zusammenhang mit Bà Ngoại, benutzt Mẹ immerzu die Wörter »vất vả« sowie »khó khăn«, was so viel bedeutet wie hart. Sie hatte ein hartes Leben, hatte hart gearbeitet. Sie arbeitete bis nachts auf dem Feld und verkaufte morgens Gemüse auf dem Markt. Sie war arm und das Leben anstrengend. Das Bild von meiner Mutter als Kind und ihrer Mutter zeigt jedoch, dass es auch die wenigen glücklichen Momente gab.
4: Oma Heidi
Es gab eine deutsche Oma in unserem Leben hier in Speyer, sie hieß Oma Heidi. Von ihr habe ich herzliche Erinnerungen. Sie begleitete uns sogar zu meinem ersten Schultag. Meine Mutter begann für sie zu putzen, als ich gerade 1-2 Jahre alt war. Oma Heidi arbeitete in der Firma, in der auch mein Vater zur Arbeit ging. Er fragte dort, ob man eine Putzhilfe bräuchte. So begann es und zehn Jahre lang putzte meine Mẹ zwei bis dreimal die Woche das große Haus von ihr. Oft nahm sie mich mit und ich spielte mit ihren zwei Katzen. Später, als mein Bruder zur Welt kam, begleiteten wir beide unsere Mẹ zur Arbeit. Auch ihr erzählte Mẹ von ihrer leiblichen Mutter, dass sie früh verstorben sei. Daraufhin erwiderte Oma Heidi »Nenn’ mich ab sofort Mama.« Noch heute besuchen meine Eltern das Grab von ihr. Ich erinnere mich an die großen, langen, kastanienbraunen Treppen. Sie selbst hatte auch zwei Kinder im Alter meiner Mutter. Es ist wohl das erste Haus einer deutschen Familie, an das ich mich erinnere. Auch hier frage ich mich, wie sie wohl vor uns gelebt hatte.
5: Bà Nội
Ich hatte Angst vor ihr. Vor der Mutter meines Bốs. Das erste Mal war ich in Thanh Hóa zu Besuch, im Heimatort meines Vaters. In der ersten Nacht war es laut, wir schliefen oben. Plötzlich gab es Streit. Unter den Geschwistern. Mit der Mutter. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass es auch Streit zwischen meinem Bố und Bà Nội gab. Bis spät in die Nacht ging es. Es war das erste Mal seit mehr als 10 Jahren, dass mein Vater wieder in der Heimat war. Ich erinnere mich, wie sie am nächsten Morgen auf den Treppenstufen vor dem Haus saß. Mit ihren schwarzen Zähnen. Die Cousinen und Cousins sind auf sie zugegangen, sie lockte mit Süßigkeiten. Ich verstand sie gerade so mit meinem gebrochenen Vietnamesisch, zierte mich aber. Auch mir bat sie Süßigkeiten an. Sie trug in ihren grauen Haaren einen breiten, schwarzen Haarreif. Ihre schwarzen Zähne werde ich nie vergessen. Sie lächelte mich an. Zögernd lief ich auf sie zu und nahm die Süßigkeiten. Ich hatte Angst vor ihr, denn solch schwarze Zähne habe ich vorher nie gesehen. Heute weiß ich, dass die Farbe ihrer Zähne von den Betelnüssen kam. Durch das Kauen der Frucht werden die Zähne zuerst rot, dann schwarz. Es war ein Schönheitsideal. Solche Zähne galten als sauber und resistent.
6: Sehnsucht
Ich sehe ein tiefes, schwarzes Loch und fühle mich entwurzelt. Klar, kenne ich meine Eltern, aber irgendwie kenne ich sie auch nicht. Es sind nur Bruchteile, die ich erfahre, mitbekomme, miterlebe. Ich kenne sie nur in ihrem deutschen Leben. Dem Leben der Arbeit, im McDonald’s, in der Metallfabrik, in der Schlachterei oder beim Putzen. Wenn ich aber genauer darüber nachdenke, sehe ich sie auch in ihrem Leben in der Gemeinschaft bei den Tết-Feiern, den Weihnachtsfesten, den Geburtstagen und Abendessen sowie Grillfeiern. Viele Stunden, Tage und Wochen abwesend oder ganz präsent bei Freund*innen zu Besuch. Zum Essen, zum ăn nhậu. Einerseits fühle ich eine Schwere, die Geschichten der Verstorbenen nicht zu kennen, andererseits spüre ich eine Leichtigkeit, als ob meine Schultern befreit sind von ihrem Gewicht, das Leid nicht tragen zu müssen, so wie ich die Traumata meiner beiden Eltern trage.
7: Geschichten
Geschichten, die nie zu Wort kamen,
aber in unseren Körpern spürbar waren,
die sich bemerkbar machten,
in unseren Alpträumen,
in unseren Ängsten und Sorgen,
in unserem Kummer,
als es zu spät war.
Wie Gespenster lauern meine Verwandten,
und ihre Geschichten,
Sehnsüchte verbinden uns.
Sie wollen raus,
in die Nacht, in den Tag,
ihre Seelen wollen ruhen,
ihre Geschichten wollen raus,
in die Nacht, in den Tag,
auf Papier, niedergeschrieben,
dokumentiert,
das Familienerbe.
Es sind die Geschichten,
die nicht ans Licht kommen, selbst wenn ich frage.
Geschichten, die mich verfolgen.