haunted - ECHOS

 

Text ECHOS, gelesen von Dieu Hao Do.

ECHOS
haunted echos
© Dieu Hao Do

Liebes jüngeres Ich,

 

ich wollte Dir einen hoffnungsvollen Brief schreiben, einen Brief voller ermutigender Worte und Einsichten. Es sollte um die Geschichte unserer Vorfahren gehen, um das Leid, das sie im Amerikanischen Krieg in Vietnam ertragen mussten. Ich wollte Dir von ihrer Flucht vor dem kommunistischen Regime erzählen, von ihrer Enteignung und von ihrer Rolle als chinesische Minderheit in der Geschichtsschreibung. Ich hatte mir vorgenommen, Dir den Weg mit ein wenig mehr Gewissheit aufzuzeigen, aber vielleicht sind diese Worte eine ehrliche Erinnerung daran, dass das Leben voller Irrwege ist, und auch sie verdienen einen Platz in unserem Bewusstsein. 

 

Die Identität, die wir in uns tragen, ist voller Risse, an der die Fassade der Überzeugungen, die wir bis zum heutigen Tag in uns genährt haben, im Angesicht neuer Erkenntnisse zerbröckelt. Ich kann nicht länger allein den Amerikanischen Krieg in Vietnam für die Zersplitterung unserer Familie verantwortlich machen. Dasselbe kann ich auch nicht mit dem Kommunismus tun. Die Geschichte, oder besser gesagt, diejenigen, die die Geschichte(n) schreiben, versuchen allzu oft, uns in Täter und Opfer zu unterteilen. Es ist bequem, in dieser Dichotomie zu leben, aber in unserer Version der Geschichte gibt es keine klaren Trennlinien.

 

Unsere Vorfahren lebten in einem Land, das über 100 Jahre lang von kolonialen und imperialen Mächten fremdbestimmt und ausgebeutet wurde. Im Jahr 1858 kamen die Franzosen, 1940 zusätzlich die Japaner und mitten im Kalten Krieg 1964 die USA. Letztere blieben bis zum 29. März 1973. Erst mit dem Hissen der nordvietnamesischen Flagge auf dem Präsidentenpalast am 30.04.1975 endete nach 20 Jahren eine der größten Kriegswirren des Jahrhunderts. Deine Tante und dein Onkel sind 1979 mit dem Fischkutter aufs Meer geflohen. Sie haben ihr Leben für die Freiheit riskiert. Sie flohen aus einem Land, das sie verstoßen hatte und wurden von dem deutschen Rettungsschiff Cap Anamur gerettet. Diese Ereignisse und Verweise in die Geschichte sind der Grund, wieso diese “Version” von uns heute existiert. Das ist die eine Wahrheit.

 

Die andere Wahrheit lautet wie folgt: unsere Vorfahren waren Chinesen und lebten als Minderheit in einer selbst errichteten, in weiten Teilen untereinander abgegrenzten Blase. Dein Großvater Hue war im Stoffhandel tätig. Viele Chinesen waren im Handels- oder Bankgeschäft tätig. Einige von ihnen waren vor den Briten im Opiumkrieg oder vor den Japanern im Chinesisch-Japanischen Krieg geflohen. Infolgedessen lebten mehr als eine halbe Million Chinesen, meist aus Südchina in Cholón, dem chinesischen Viertel Saigons. Viele von ihnen waren wohlhabend, privilegiert und korrupt. Korrupt zu sein, bedeutete damals nichts. In einem politisch instabilen Land tat man, was man konnte, um zu überleben. Korruption war ein Teil der Überlebensstrategie. Bloß um korrupt zu sein, brauchte man Ressourcen, und die hatten sie. Zu Weihnachten gab es amerikanische Äpfel, zu Hause stand ein französisches Klavier, und in ihrer Freizeit fuhren sie auf Mopeds herum und spielten Badminton. In der Familie unserer Vorfahren kursierten gefälschte Pässe und Geburtsurkunden. Sie spielten um große Summen, und die Männer betrogen ihre Frauen.

 

Das schlimmste Verbrechen von allen ist jedoch: es wurde nicht geliebt, so konnte sich ein Empathielosigkeit entwickeln und ausbreiten. Ich sage das mit einer Gewissheit, weil wir in der zweiten Generation die Nachbeben spüren und der Krieg in unserem Gedächtnis gerade erst begonnen hat. Es ist eine chaotische Schlacht, Hao.

 

Lange Zeit habe ich versucht, alles auf den Kommunismus zu schieben. Dass unsere Vorfahren nach dem Fall von Saigon 1975 aus dem Land vertrieben wurden. Das ist auch wahr. Aber es war nicht in erster Linie, weil sie Chinesen waren. Sie wurden zum Feindbild, weil sie Kapitalisten waren und den Handel sowie das Bankwesen kontrollierten. Sie waren Teil eines alten Systems, das das neue kommunistische Regime nach der Machtergreifung um jeden Preis zerschlagen wollte. Deshalb erfolgte 1978 der Währungswechsel mit der Konsequenz, dass über Nacht der angehäufte Wohlstand wertlos wurde und nur eine bestimmte Summe eingetauscht werden konnte. Deshalb patrouillierten kommunistische Soldaten vor ihrem Haus und ihrem Geschäft, bevor es enteignet wurde. Deshalb verloren sie ihren Status als privilegierte chinesische Minderheit und aus diesem Grund sind unsere Vorfahren geflohen.

 

Vietnam war nie wirklich ihre Heimat. Es war kein Ort, mit dem sie sich kulturell verbunden fühlten. Vietnam war eine Bühne, auf der sie ihr Spiel des Lebens spielten: mit eigenen Märkten, eigenen Schulen, eigenen Restaurants und eigenen Tempeln. Diese Menschen interessierten sich nur am Rande für das Land und seine Menschen. Und sie interessierten sich auch wenig für die Unabhängigkeitsbestrebungen eines Landes, das mehr als 100 Jahre fremdbestimmt wurde.

 

Wenn du also in Erzählungen vom Verlust der Heimat hörst, hör genau hin, was dann folgt. Unsere Vorfahren lebten abgegrenzt von den Vietnamesen. Unsere Großmutter sprach nicht einmal die Sprache, nachdem sie mit unserem Großvater verheiratet wurde und 7 Kinder gebar. Ihr Schicksal war es, der Familie und dem Patriarchat zu dienen und ihre Kinder, unsere Vorfahren, dazu zu erziehen, diese Tradition fortzuführen. Allen Frauen in dieser Familie wurde beigebracht, in einem Käfig zu leben, während die Männer das Patriarchat stützten.

 

Ich weiß, dass diese Geschichte, in Anbetracht unseres Wissens über den Krieg in Vietnam, nicht sehr gut in ein Opfernarrativ passt. Viele Menschen tappen im Dunkeln, wenn ich überhaupt über eine chinesische Minderheit in Vietnam spreche. Wenn du heute nach Saigon reist und in Cholón Kantonesisch, Teochew oder Fujian (das sind die Dialekte des Südens) sprichst, werden sich die Leute umdrehen. Sie werden mit dir sprechen, sie werden dich als jemand anderen sehen, und folglich werden sie dich als jemand anderen fühlen. Die Schilder an den Geschäften dort sind heute größtenteils auf Vietnamesisch. Auch die Straßennamen wurden geändert. Die alte Straße im sechsten Bezirk, in der unsere Vorfahren lebten, hieß Truong Tan Buu. Heute heißt sie Le Quang Sung. Ich würde dir gern erzählen, nach wem sie benannt ist, aber hier gibt es eine Wissenslücke, eine von vielen. Das neue Regime änderte vieles, unter anderem die Straßennamen, die auf ein chinesisches Erbe hinweisen könnten.

 

Über die Geschichte(n) wird nicht gesprochen - es sei denn, man fragt hartnäckig nach. Man muss sich die Spuren der Vergangenheit ansehen, über die so wenig gesprochen wird, die Puzzleteile zusammensetzen und lernen, mit der Tatsache umzugehen, dass viele Menschen lieber schweigen. Unsere Vorfahren haben nie einen Raum bekommen, den Schmerz über die zermürbenden Wirren der Vergangenheit zu verarbeiten. Ich habe mich lange Zeit für die Erkenntnisse geschämt. Das tue ich immer noch, aber weißt du, was hilft? Darüber zu schreiben und sich der Scham stellen und zu verstehen, dass die Erinnerungen und Gefühle nicht allein unsere sind, sondern die unserer Vorfahren.

 

Ich habe in den letzten Jahren immer wieder über autoritäre Systeme nachgedacht. Was für Menschen entstehen, wenn Unterdrückung und Gehorsam uns unser ganzes Leben lang begleiten. Wir werden zu Gefangenen unserer Selbst. Es beunruhigt mich, denn die nachfolgenden Generationen werden immer noch davon geprägt. Ich spüre, dass der Blick in die Vergangenheit den Optimisten in mir erschüttert. Es gibt Tage, da möchte ich kapitulieren, weglaufen, die Augen schließen oder umkehren.

 

Trauma, so wie ich es verstehe, hat tiefe Wunden in uns hinterlassen, auch wenn wir sie nicht selbst erlebt haben. Wir erleben sie trotzdem und wir spüren sie, die Erschütterungen in unseren Gliedern und Herzen.

 

Mach weiter und viel Glück,

Hao

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© Dieu Hao Do