haunted - German Airy Tales
Hochzeitsfoto der (Groß-)Eltern © Laura Ziegler
Telefonat 1, 13. Juli 2023, 14:36 Uhr
L: Wie fangen wir an? Eigentlich begann es für mich mit einem Foto der Großeltern, auf dem Opa seine US-Soldatenuniform trug. Du gabst mir das Bild 2006 mit in die USA, um zu sehen, ob ich etwas über die Familie herausfinde. Ich war in Kansas recht abgeschottet (lacht) und vermutlich zu jung, um Archivsuche zu begreifen. Es gab Militärangehörige aus der Nachbarschaft, die bemüht waren. So richtig jedoch lief es nicht. Das war zudem noch vor der universellen Internetrecherche ...
P: Ja, dieses Foto! Dramatisch dabei war, dass Euer Großvater, mein Vater, der offiziell als tot galt, plötzlich aus dem Koreakrieg nach Deutschland zurückkam. Er wurde mir von meiner Mutter als Onkel vorgestellt. Alle Männer außerhalb der Familie wurden bei uns grundlegend als Onkels bezeichnet (lacht).
Was ich dahingehend übrigens noch nie in Filmen gesehen habe, sind Geschichten interkultureller Konstellationen, wie die meiner Eltern: weiße Frau und Schwarzer Mann. Ob das wohl trotz Segregation in den USA in Schwarz-Weiß-Filmen verhandelt wurde? Kennst Du den Film Mississippi Burning? Der ist aus der Zeit meines Vaters in Alabama.
Was auch wichtig ist zu ergänzen, da es vermutlich den meisten Leuten in Deutschland gar nicht klar ist: Mein Vater war, obwohl ich das nicht näher beschreiben kann, in der Zeit, als er in Europa stationiert war, vermutlich »freier« – in Anführungszeichen. Damals gab es bei den amerikanischen Alliierten noch offiziell racial segregation auch unter den Soldaten. Er war nur insofern frei, wie er es in Alabama nicht sein konnte ... was das bedeutet, begreife ich heute erst langsam. Wäre meine Mutter damals mit ihm zurück nach Alabama ... die Baumwollplantagen dort, alleine die Vorstellung!
Anzeige im Ebony Magazine - Jet Magazine, 12. November 1953
Telefonat 2, 19. Juli 2023, 14:02 Uhr
L: Hat sich Dein Empfinden, Dein Blick nach dem Besuch der Archiv-Ausstellung vergangenes Frühjahr nochmal verändert? Im Dortmunder Kunstverein erarbeitete James G. Atkinson mit Eric Otieno und Mearg Negusse eine Sammlung, die sich sowohl dem administrativen Fortlauf von Segregation in Deutschland als auch der Entstehung und Manifestation afrodeutscher Kultur widmet.¹ Man blickt in meiner Erinnerung auf Ausschnitte afroamerikanischer Magazine wie Ebony und davon inspirierten lokalen Versionen in der Bemühung um Vernetzung hier in Deutschland. Man blickt auf brutale Dokumente, die das Leben afrodeutscher Kinder klassifizierten, die Schulbildung behinderten bis hin zu Begebenheiten wie dem Brown Baby Plan. Aktivistin und Journalistin Mabel Grammer organisierte damals einen Adoptionsplan, der afrodeutsche Babys in Familien in die USA brachte, um ihnen ein potenziell leidvolles Aufwachsen und die Schikanen in deutschen Kinderheimen zu ersparen. Ich war verblüfft zu erfahren, dass die meisten »brown babies« Deiner Generation nicht hier in Deutschland aufwuchsen oder hier heute gar leben.
P: Ich hatte tatsächlich keine Ahnung von all diesen Sachen. Ich weiß nur, dass ich persönlich damals Glück hatte, besonders mit der Schule in Düsseldorf, die ich nach dem Krieg besuchte. Dort kam man mit heute bekannten Künstler*innen zusammen, die dort entweder Teilzeit- oder Vollzeitlehrer*innen waren, deren Offenheit mir sehr half, ohne das bewusst realisiert zu haben. Der weitere Vorteil der Zeit war, dass – natürlich nur für die industrialisierte westliche Welt – die Dekaden nach dem Krieg die freiesten waren. So etwas wie die Hippiezeit und damit verbundene Gefühle, das war einmalig, kam nie wieder, und Du kannst es auch nicht nachholen, diese hoffnungsvolle Stimmung ... so sehe ich das heute.
L: Apropos Stimmung, Du meintest, damals gaben viele Musiker*innen aus dem Militärkontext (unter ihnen Jimi Hendrix & Co.) Konzerte für die im Ausland, auch in Deutschland, stationierten Soldat*innen. Hast Du selbst mal als Kind eins mitbekommen?
P: Ich selbst nicht. Jedoch Deine Oma. Sie tanzte wohl mit Louis Armstrong, was Opa leicht zu besorgen schien ... darüber könnte man einen ganzen Film drehen (lacht).
Das Konzertorchester der 427th Army Band bei einer Probe in Frankfurt, 1948 © U. S. Army Signal Corps
L: Du fragtest vorhin, ob es wohl Filme zu interkulturellen Liebesbeziehungen gab: Ich hab’ auch noch nie einen Film dazu gesehen. Allerdings denke ich dabei gerade an die historische Crux: das einstige White-Passing-Filmgenre. Die Geschichten basieren meist auf Romanen der afroamerikanischen Autorinnen Nella Larsen oder Zora Neale Hurston. Als Töchter von Kindermädchen betreten die Hauptfiguren dort eine weiße Welt, welche sie aufgrund ihrer selten hellen Hautfarbe zunächst willkommen heißt. Höhepunkt und Finale ist meist die dramatische »Enttarnung« als Kind einer Schwarzen Nanny.
P: Glaube, ich hab’ Fassungen davon mal irgendwo gesehen ...
L: Vor ein paar Jahren hat Schauspielerin Rebecca Hall den Film Passing (2021) produziert und darin auch Regie geführt, der auf dem gleichnamigen Buch (1929) von Nella Larsen beruht. Halls Mutter war wohl auch »white passing«. Ich frage mittlerweile leicht skeptisch nach der Dringlichkeit dieser Filme.
Das White-Passing-Filmgenre selbst geht auf die One-Drop Rule zurück, so wie damalige US-amerikanische Gesetze zu »interracial relationships«.² Während man Verbindungen zwischen weißen Männern und Schwarzen Frauen duldete, wurden Beziehungen zwischen Schwarzen Männern und weißen Frauen bestraft. Bis zur Wiedervereinigung fanden einzelne Staaten der USA Wege, um »mixed families« zuzulassen. Während der Jim-Crow-Ära schwand jedoch diese Toleranz.³
Der 7800th Infantry Platoon, eine Ehrengarde Schwarzer Soldaten, auf dem Flugplatz Tempelhof, Berlin, 1948 © U. S. Army
House Bill 79 – Gesetzentwürfe, die 1911 in den USA erlassen und später als One-Drop Rule bekannt wurden – erklärte die bloße Existenz eines nicht »gänzlich« weißen Kindes zum Beweis eines elterlichen Verbrechens. Gesetze, die über den Blutanteil definiert wurden, betrafen alle mit bestimmten Anteilen afrikanischer Abstammung.⁴ Das spiegelt sich im Verhältnis von Verbrüderungsverbot und Segregation in der deutschen Nachkriegszeit und stationierten Schwarzen Soldaten wie Opa wider.
Erinnerst Du Dich an diese Dokumentation über Frauen nach 1945, denen es so erging wie Oma? Der Fokus lag auf »mixed race«- Familien im Nachkriegsdeutschland. Man sah darin erschöpfte weiße deutsche Mütter in kargen Hütten, die »brown babies« wiegten.
P: Das nennt man dann wohl automatische Verdrängung ... ich erinnere mich gerade nicht. War das direkt nach dem Krieg, diese Doku? War das in der Wochenschau? Fernsehen gab es ja noch nicht.
L: Ja, das muss direkt danach gewesen sein, glaube ich ...
P: Kann man sich diese Dokumentation dazu nochmal angucken? L: Ja, ich war mir nicht sicher, ob Du das nochmal sehen willst.
P: Ja, auf jeden Fall.
E-Mail, 28. Juli 2023, 15:34 Uhr
Nachtrag: Persönliche Erinnerungen und Gedankenassoziationen zum Gespräch
P: Ich hatte Chancen. Habe sie aber nicht genutzt, zum Beispiel dass ich ›sie‹ nicht über das sogenannte Dreikaiserjahr, über den Verlust ihrer 30.000 Goldmark, über ihre Vertreibung von ihrem Gut im damaligen Schneidemühl gefragt habe.
Als ›sie‹ im Mai 1879 geboren wurde, regierte Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen, kurz Wilhelm I., noch zwei Jahre bis zu seinem Tod am 9. März 1888 als erster Deutscher Kaiser nach der Reichsgründung 1871. Im sogenannten Dreikaiserjahr folgte der 28-jährige Wilhelm II. seinem nur 99 Tage herrschenden, 56-jährigen Vater Friedrich III. und seinem 90-jährigen Großvater Wilhelm I. auf den Thron Preußens und des Deutschen Reiches. Nach seiner Herrschaftsauffassung bestand der neue Kaiser darauf, die Regierungspolitik persönlich zu leiten. Wobei er durch sein als undiplomatisch und großspurig empfundenes Auftreten nicht nur mehrfach innen- und außenpolitische Krisen verursachte, sondern sein von ihm stark forcierter Ausbau der Kaiserlichen Marine und die damit verbundene sogenannte Weltpolitik letztlich zum Konfliktpotenzial beitrug, das sich im Ersten Weltkrieg entlud.
Dies wiederum kostete ›sie‹ die 30.000 Goldmark für die Kriegsanleihe und ›ihr‹ Gut in Schneidemühl, dem heutigen Piła (ab dem Frühjahr 1945 stand Schneidemühl unter der Verwaltung der Volksrepublik Polen und wurde in Piła umbenannt).
›Ihr‹ Neuanfang nach dem Ersten Weltkrieg im rheinischen Düsseldorf blieb ebenfalls nicht ohne Überraschungen. Nachdem die kurze Ehe ›ihrer‹ jungen Enkelin mit einem hochrangigen Nazi scheiterte, wurde die Familie mit der Geburt eines »Mischlings« konfrontiert – dem Ergebnis der großen Liebe ›ihrer‹ Enkelin mit einem Befreier des einst 1000-jährigen Deutschen Reiches der Nazis. Dabei war es nicht allein die Mischung eines US-amerikanischen Soldaten mit einer deutschen, nicht-blonden geschiedenen Frau, sondern auch die Schwarze Hautfarbe des Besatzers, welche die weiße deutsche Frau nach deutschem Volksmund zu einem »Ami-Liebchen« des Schwarzen Befreiers machte.
Und im Vergleich zu anderen Ländern, wie Großbritannien und Japan, gehörte auch diese deutsche Mutter mit ihrem Schwarzen Kind zu den Müttern, die am wenigsten bereit oder bestrebt waren, ihr Kind adoptieren zu lassen oder in ein Heim zu geben. Jedoch zwang sie ihr Vater, ein Beamter der einstigen Deutschen Reichsbahn dazu, das Haus zu verlassen, während der Schwarze Nazi-Befreier von seinen militärischen Befehlshabern nach Korea strafversetzt wurde.
Aufgrund der Schande ihres »N-mischlings« wurde auch seine Mutter aus einem der beiden Familienhäuser in eine Schrebergarten-Anlage verwiesen, in der ebenfalls die Familie von ›ihr‹ lebte, ›sie‹, die inzwischen Urgroßmutter war – das ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass einer ›ihrer‹ drei Söhne als Zugführer Beamter der einstigen Deutschen Reichsbahn und heutigen Deutschen Bundesbahn gewesen ist.
Nach einer Karenzzeit durfte die inzwischen 36-jährige Mutter des »M-Wort« wieder heim ins Schrebergarten-Reich und erlebte mit der ganzen Familie eine unerwartete Situation: Der durch seinen Einsatz im Koreakrieg tot geglaubte Schwarze Nazi-Befreier war am Leben geblieben und in der US-Kaserne im hessischen Butzbach stationiert.
Dort wurde er dem vierjährigen »M-Wort«, seinem leiblichen Sohn, als dessen Onkel vorgestellt, wobei sich der Kleine heute nur an die Hershey-Schokolade erinnern kann. Weil sich auch die Verhältnisse der Mutter geändert hatten, war dies die letzte Begegnung zwischen Vater und Sohn, der seinen Stiefvater bis heute als seinen Papa empfindet. Denn seine Mutter hatte inzwischen den besten Freund ihres Bruders geheiratet, was durch die Lage einer Frau in Deutschland der 1950er Jahre nachvollziehbar ist, die ungewollt ein Kind von einem Nazi sowie einen »N-mischling« von ihrer großen Liebe versorgen musste.
Heute ist der große »M-Wort« froh, dass seine Mutter nicht mit seinem leiblichen Vater in die USA gezogen ist beziehungsweise es wegen der Heirat mit Papa nicht konnte: Der Schwarze Befreier stammte aus dem US-Südstaat Alabama, der lange von der Plantagenlandwirtschaft einer kleinen weißen Oberschicht und deren Sklavenhaltung geprägt war. Die Interessen der agrarischen Elite wurden nach dem Ende der sogenannten Rekonstruktion durch Diskriminierungen wie racial segregation bis in die 1970er Jahre fortgeschrieben. Vermutlich wäre der kleine »M-Wort« als Baumwollpflücker früh durch die »Aktivitäten« des Ku-Klux-Klan gestorben, einem rassistischen, gewalttätigen Geheimbund, der noch heute in den USA aktiv ist.
›Sie‹, die Urgroßmutter, wurde nach drei Kaisern und einem Diktator während ihrer Lebenszeit am Ende noch ein Fan von Willy Brandt und wählte den vierten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der von 1969 bis 1974 Regierungschef einer sozial-liberalen Koalition von SPD und FDP war.
›Sie‹ starb friedlich 1979 mit 96 Jahren in einem Altersheim, weil sie dort keine Lust mehr auf Leben hatte. Ich habe meine Chance vertan, sie über das sogenannte Dreikaiserjahr, über den Verlust ihrer 30.000 Goldmark, über ihre Vertreibung von ihrem Gut im damaligen Schneidemühl zu befragen. Ihre Enkelin, meine Mutter, starb friedlich auf der Hazienda ihrer Tochter, also meiner Schwester, in Mexiko. Wie, wo und wann ihre große Liebe, mein leiblicher Vater und Schwarzer Nazi-Befreier starb, ist unbekannt.
Mein einst schlagender Großvater starb mit 62 (unverdient) beim Mittagsschlaf. (Ich weiß nicht, ob er als beamteter Zugführer der Deutschen Reichsbahn auch Transporte in KZs begleitet hat.) Dessen Frau, meine Großmutter, die die besten Kartoffeln für ›mich‹ briet, starb aufgeblüht nach dem Tod ihrer Schwiegermutter (›sie‹), die Urgroßmutter, mit der sie bis zum Schluss Jahrzehnte zusammenleben musste.
¹ James Gregory Atkinson, 6 Friedberg-Chicago, Dortmunder Kunstverein, 11. Dezember 2021 bis 13. März 2022. Die Ausstellung präsentiert ein nichtlineares Archiv, das sich mit der Geschichte Schwarzer Soldaten in Deutschland und deren Nachkommen auseinandersetzt. Atkinson erarbeitete das Archiv gemeinsam mit Eric Otieno (Soziologe und Politikwissenschaftler) und Mearg Negusse (Kunsthistorikerin).
² Die One-Drop Rule (Deutsch: Ein-Tropfen- Regel) war ein Rechtsprinzip der ›Rassenklassifizierung‹, das im 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten weit verbreitet war. Es besagte, dass jede Person, die auch nur einen Vorfahren Schwarzer Abstammung (»einen Tropfen Schwarzen Blutes«) hat, als Schwarz gilt. Bevor diese Regel vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung ›Loving gegen Virginia‹ von 1967 abgeschafft wurde, diente sie dazu, Eheschließungen zwischen weißen und Schwarzen Personen zu verhindern, womit generell Rechte und Chancengleichheit verhindert und weiße Vorherrschaft aufrechterhalten wurden.
³ Als Jim-Crow-Gesetze wird eine Reihe von Gesetzen bezeichnet, die in der Zeit zwischen der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten 1865 und dem Ende der »Rassentrennung« Mitte der 1960er Jahre in den Südstaaten in Kraft waren. Ziel der von weißen Südstaaten-Demokrat*innen initiierten Gesetze im Solid South war es, der Schwarzen Bevölkerung ihre mit dem Sezessionskrieg erlangten Rechte sowie die damit einhergehenden ökonomischen und politischen Errungenschaften wegzunehmen. Benannt sind die Gesetze nach der von Thomas D. Rice erfundenen Figur des Jim Crow, eines stereotyp tanzenden und singenden Schwarzen Manns. Kern der Gesetze war die »Rassentrennung« in allen öffentlichen Einrichtungen, darunter insbesondere auch im Bildungssystem und öffentlichen Personennah- und -fernverkehr. Vgl. u.a. https://en.wikipedia.org/wiki/Jim_Crow_laws (zuletzt aufgerufen: Oktober 2023).
⁴ Vgl. Frank W. Sweet: Legal History of the Color Line. The Rise and Triumph of the One-Drop Rule, Palm Coast 2005.