haunted - LARVA
Ingrimm und Schrecktracht aus dem Künstlerbuch Larva (lat. böser Geist, Gespenst, Fratzengesicht, Maske) von Thomas Musehold – Ausgangspunkt sind Masken, die als Billigware in Karneval-Discountern verkauft werden. Mittels 3D-Scan und CAD (computer-aided design) bearbeitet Musehold die Masken. Den vermeintlich rituellen Artefakten stellt er eigene Texte aus Wissenschaft, Lyrik und Fiktion gegenüber. Durch die Bearbeitung des Bildmaterials und die begleitenden Texte werden die Masken in einen mythischen Kontext überführt, der sie zu zeitgemäßen Fetischen macht.
Larva ist im November 2022 im DISTANZ Verlag erschienen.
Wende und drehe Ingrimm
Text Ingrimm in einer Blinden- und Sehbehinderten-Version, gelesen von Thomas Musehold.
Ingrimm
Droht eine Seifenblase unentwegt zu zerplatzen, vereinen sich die Blasen am Mund der Fratze. Das Fluid ist zäh, die Viskosität groß. So überdeckt Schaum einer Matte gleich den Mund. Durch ihn hindurch zeichnet sich ein Grinsen, vielleicht sogar ein Lachen ab – Risus sardonicus. Das Lachen der Verzweiflung – der Gemütszustand zerrissen zwischen Dominanz und absoluter Furcht.
„Lang hab ich roten schweiss der angst geschwitzt [.]“¹ Doch meine Angst wird durch Zorn ersetzt. Meine Sicht ist getrübt: Waren jene Personen mit ihren Ansichten und Meinungen außerhalb meiner Reichweite, drängt sich mir nun alles in unangenehmster Weise auf. Als sei meine Linse konkav und konvex zugleich, schnellt eine Präsenz urplötzlich in distanzlose Nähe.
Die Verwechslung von Nähe und Ferne, vom Eigentlichen und Uneigentlichen ist die Kunst der Maske. Trägst du sie, tangiert dich alles. Zwar glückt es dir, in „die imaginative, v.a. visuelle Vorstellung, in den vom Artefakt bestimmten Raum bzw. in seine Welt einzutreten,“ aber „in ihr >rezentriert< zu sein […] und diese wie eine Wirklichkeit (mit)zuerleben“,² misslingt: „Die Praxis der Fiktion läuft ständig Gefahr, dem Glauben daran anheimzufallen oder Vorschub zu leisten.“³ Deine Heimsuchung ist der Fanatismus, gepaart mit der vorgeblichen Erleuchtung deines Verstandes – dem Illusionismus.⁴ Doch bist du außerstande, dies zu erkennen. Verweist die Nase der Maske auf den Clown, der du geworden bist, erscheint der Rest als Bestie, die uns zu zerfleischen vermag. Und ihr infektiöser Speichel macht uns zu ihresgleichen.
Das Handwerk des Ingrimms ist die Bastelei. Er ist derjenige, „der ‚mit dem, was ihm zur Hand ist‘, werkelt. Dieses Werkzeug findet er in seiner Umgebung vor und kann sich ihrer sogleich bedienen, sie sind schon da, wenn sie auch nicht speziell für das Vorhaben entworfen wurden, für das sie jetzt verwendet werden und für das man sie behutsam zuzurichten versucht; [er] zögert nicht, sie, wenn nötig, auszuwechseln oder mehrere gleichzeitig auszuprobieren, auch wenn ihr Ursprung oder ihre Form einander fremd sind usf.“⁵ Ist der Ingrimm derart in dich eingefahren, kann es geschehen, dass er mit deiner Stimme spricht:
„– O Jammer! Jammer! Zeit verschlingt das Leben,
Der finstere Feind, der uns das Herz zerfrißt,
Wächst und gedeiht vom Blut, das wir ihm geben!“⁶
Betrachten wir die Fratze rückseitig, ist sie mit Furchen durchzogen – rhythmisierte Wellenlinien in kunstvolle Falten gelegt. Ein Ächzen zerreißt die gegerbte Oberfläche. Stenose der Kanäle der Augen und Nase – die Wirklichkeit erreicht das Bewusstsein als klägliches Rinnsal. Gequälte Apathie als Folge gedrosselter Wahrnehmung.
Wie sich im Flor verbirgt der Sonne Schein,
Mond meines Lebens! legte Schatten um;
Schlaf, sei umwölkt, sei düster oder stumm,
Tauch in den Abgrund deiner Schwermut ein [...]“⁷
¹ George, Stefan: Der Krieg. Dichtung von Stefan George. Berlin 1917, S. 3.
² Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. v. Ansgar Nünning, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Weimar 2001, S. 270.
³ Derrida, Jacques: Die Wahrheit in der Malerei. Wien 2008, S. 103.
⁴ Vgl. ebd.
⁵ Derrida, Jacques: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen.“ In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 2004, S. 125.
⁶ Baudelaire, Charles: „Der Feind.“ In: Die Blumen des Bösen. Stuttgart 2000, S. 17.
⁷ Baudelaire, Charles: „Der Besessene.“ In: ebd., S. 39.
Wende und drehe Schrecktracht
Text Schrecktracht in einer Blinden- und Sehbehinderten-Version, gelesen von Thomas Musehold.
Schrecktracht
Borkig, in sich windend dreht der Kolben seine Schraubenlinie – Ausdruck eines Widerwillens. Die Stirn ist gelegt in kritische Faltung – verhärtet auf Ewigkeit, mit Teflon gesintert. Im Blick liegt der Unwille auf Morgen, getränkt durch die Platitude des ewig Gestrigen. Und nicht zu offensichtlich, eher im Verborgenen, sind die Zähne gefletscht. Man möchte Haltung wahren. Doch wofür? Das Gesicht spricht Bände: „[…] ich muss nicht jedermanns Selbstwahrnehmung bestätigen. Das Menschenrecht auf Meinungs- und Gewissensfreiheit darf nicht zugunsten der psychischen Bedürfnisse einer Minderheit ausgehebelt werden.“¹
Knorriges Ebenmaß, grobe Statik sind modischer Makel des vermeintlich Normalen. Das goldene Mittelmaß als Zentrum eines Kults der Unveränderbarkeit findet seine stärkste Ausprägung im Fetisch standardisierter Rollenbilder, artikuliert durch den Habitus des Gewöhnlichen. Die Motive des Fetischismus „sind jedoch keine anderen als die des Zauberglaubens überhaupt; sie wurzeln in der Anschauung, daß der Mensch überall von […] Dämonenwirkungen umgeben sei, und sie äußern sich in Symptomen der Furcht vor diesen Wirkungen und des Wunsches sie zu beherrschen [:]“² :„[…] the paranoid subject worries about homosexuals who might be around him: the homosexual as threat. Mark McCormack explains that ‚homohysteria is defined as the cultural fear of being homosexualized‘ […]“³
Setzt du die Maske auf, so tauchst du durch eine ebenmäßige Oberfläche. Alsbald ereilen dich wohligste Erinnerungen aus deiner Kindheit. Du bist frei von jeglichen Vorurteilen und das Aufzeigen sozialer Unterschiede ist dir fremd. Cartooneske Figuren gesellen sich zu dir. Das Spielen und Herumtollen mit ihnen macht dir großen Spaß. Doch zunehmend triezen sie dich, indem sie dir scheinbare Privilegien vorenthalten. Die Qual wird immer größer und in „[…] jeder Gesellschaft, jeder Gemeinschaft gibt es – und muss es geben – einen Kanal, einen Notausgang, durch den die angestaute Energie in Form von Aggressivität abfließen kann“⁴. Du erkennst in den Figuren die Stereotypen von Minoritäten. Suche dir eine aus und aus der Erzählung über deren Lebensweise „wachsen phantastische Momente hervor, die sich aus Riten, Mythen und Träumen ableiten [:]“⁵ Orientierungen die sich als mentale Seuchen ausbreiten, Kriminalität als ethnische Prädisposition, ProLife, Zwarte Piet – burn the witch. Das Feindbild ist klar, der Schuldige gefunden und die Hexenjagd beginnt.
¹ Steinhoff, Uwe im Gespräch mit Kissler, Alexander: «Die Rede von den vielen Geschlechtern ist letztlich nur Gerede»: Wissenschaftler werfen ARD und ZDF vor, gegen den Programmauftrag zu verstoßen (02.06.2022): https://www.nzz.ch/international/ard-undzdf-wissenschaftler-kritisieren-transgender-ideologie-ld.1687072. Zugriff: 04.06.2022.
² Wundt, Wilhelm: „Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte.“ In: Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hrsg. v. Johannes Endres. Berlin 2017, S. 69.
³ McCormack, Mark: The Declining Significance of Homophobia: How Teenage Boys Are Redefining Masculinity and Heterosexuality. Oxford 2012, S. 44, zitiert in: Allan, Jonathan A.: Reading from Behind. A Cultural Analysis of the Anus. Regina 2016, S. 30.
⁴ Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Wien 2016, S. 125.
⁵ Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. v. Ansgar Nünning 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Weimar 2001, S. 399.