haunted - Wo ich glaube hinzugehören
von Ilija Matusko
Text Wo ich glaube hinzugehören, gelesen von Ilija Matusko.
Es gibt ein Foto von mir aus der Zeit des Abiturs. Ich stehe neben einem Freund im Pausenhof unserer Schule, am Nachmittag fand eine kleine Feier statt. Wir sind gut gelaunt, die Prüfungen liegen hinter uns, es ist sonnig und warm. Wir haben beide einen Anzug an. Ich trage eine schwarze Hose und ein schwarzes Jackett. Aber der Anzug passt mir nicht, sieht unförmig aus, die Hose ist etwas zu lang. Das Jackett meines Freundes, der Sohn eines Arztes, ist dunkelblau und liegt eng an, er trägt eine schmale Krawatte und braune Lederschuhe, die Hände hat er lässig in den Hosentaschen.
Diese unscheinbare Stelle zwischen Hosenbein und Schuh, ein kleiner Ausschnitt, der alles offenbart.
Auf einem anderen Foto vom selben Nachmittag sitze ich mit meinem Vater am Tisch. Er trägt ein kariertes Jackett, eine breite, dunkelrote Krawatte und hat seinen Arm auf meine Schulter gelegt. Wir grinsen verlegen in die Kamera. Ich erinnere mich, wie anders mein Vater damals für mich aussah. Wenn er nicht arbeitete, dann trug er Jeans und Sweatshirts, keine Krawatten. Die meiste Zeit sah ich ihn in seiner Kochkleidung. Karierte Hosen und weiße Jacke, mit schwarzen Knöpfen, die sich herausnehmen ließen und in einer alten Wattestäbchenschachtel lagen. Meine Mutter fehlt auf den Fotos. Sie war in der Wirtschaft und arbeitete.
An wichtigen Tagen – Kommunion, Abitur, Beerdigung – war immer nur ein Elternteil dabei. Mein Vater bei meinem Abitur, meine Mutter bei der Beerdigung der Großmutter. Der andere war arbeiten. Die Wirtschaft war immer offen, sieben Tage die Woche, »durchgehend warme Küche«.
Als sich ein Freund von mir umbrachte, kurz nach dem Abitur, war ich allein auf der Beerdigung. Schwarzes Jackett, schwarze Hose. Ich erinnere mich, wie ich zurück in unsere Wirtschaft kam und erleichtert war, dass Menschen an den Tischen saßen, aßen und tranken. Dass alles weiterlief. Nichts wäre in diesem Moment trauriger gewesen als die Stille einer geschlossenen, leeren Wirtschaft.
Heute kommt es mir so vor, als hätte ich damals zwei Freunde verloren. Einen, der sich von einer Brücke stürzte. Den anderen, der nach dem Abitur Medizin studierte wie sein Vater.
*
Wenn ich im Vorbeigehen mein Spiegelbild im Schaufenster sehe, mit Lederschuhen, Schal und Mantel, denke ich manchmal: »Das bist nicht du! Das steht dir nicht!« Nicht, weil die Hose oder der Mantel nicht gut sitzen. Es passt alles, aber auf eine andere Art passt es eben nicht.
Es scheint in diesen Momenten so, als würde alles, was mich ausmacht, plötzlich kippen, als würde ich aus dem Zusammenhang meiner eigenen Biografie gerissen und in eine andere gesetzt werden.
Wenn ich schreibe, ist es immer noch so, als würde ich in ein fremdes Leben schlüpfen, in einen Anzug, der nicht für mich gemacht, der anderen vorbehalten ist.
Auch dieser Text kommt mir wie Hochstapelei vor. »Du bist nicht der Richtige, um ihn zu schreiben, du weißt nicht, wie es geht!«
*
Lange dachte ich, das eine sei das genaue Gegenteil vom anderen. Hochstapler und Hochstapler-Syndrom. Die einen sind da, wo sie jetzt sind, nur mit Tricks hingekommen. Sie geben etwas vor, das sie nicht sind. Die anderen sind da, wo sie jetzt sind, völlig zurecht, aber sie fühlen sich nicht so. Sie glauben, dass ihnen der Platz nicht zusteht. Das sind grundverschiedene Dinge. Und doch liegt beides dicht beieinander: Ein anderes Leben führen – als vorher, als damals, als alle andere denken.
Denny H. gab sich jahrelang als Arzt aus und behandelte Patienten auf einem Kreuzfahrtschiff. Er wurde angeklagt wegen Betrug, Urkundenfälschung und Körperverletzung. Er habe die Stelle erschlichen, weil er »als Kind schon immer Smutje auf einem Schiff« hatte werden wollen. Ich schnitt den Artikel aus der Zeitung aus und zeigte ihn tagelang allen, denen ich begegnete.¹
Wenn es, so lese ich auf Wikipedia, dem Hochstapler um »das Vortäuschen eines höheren gesellschaftlichen Rangs« geht, dann trifft das auch auf mich zu.²
Jemand, der in andere Kreise eingedrungen ist, der die Bewegungen der anderen zuerst studiert und dann kopiert hat, der gelernt hat, die richtigen Wörter zu benutzen, den Körper neu auszurichten und ihn in einen Mantel zu hüllen, der so lange allen etwas vorgetäuscht hat, bis ihm geglaubt wurde.
Einmal habe ich eine Frau getroffen, die auf einem Schlafsack vor Bio Company saß. Wir kamen ins Gespräch. »Kalt heute«, sagte ich. »Ja, sehr«, antwortete sie. »Wie lange sitzt du schon hier?«, fragte ich. »Seit zwei Jahren«, sagte sie. Dann erzählte sie mir, sie habe ein Buch geschrieben, sie würde eigentlich jeden Tag schreiben, seit sie jung sei, was sie so erlebe, »Gedanken und thoughts«.
Ich sehe mir die Dokumentation über Gerd Postel an, einem Postbeamten, der sich jahrelang als Arzt ausgegeben hat. In einer Szene sieht man ihn mit schwarzem Mantel in einem Restaurant sitzen, beim Lesen der FAZ. Dazu die Sprecherstimme: »Für kurze Zeit hält sich der Briefträger da auf, wo er glaubt hinzugehören. In gebildeten Kreisen.«³
Hochstapeln kann man nur, wenn es ein Oben und ein Unten gibt.
»Zeitweise ist mir klar, dass ich meinen Erfolg einer Art von Glück zu verdanken habe.«
»Manchmal habe ich Angst, dass die anderen merken, wie wenig ich eigentlich weiß und kann.«
»Wenn mir etwas gelungen ist und meine Leistung anerkannt wird, beginne ich zu zweifeln, dass ich das Erreichte wiederholen kann.«
»Eine Punktzahl über 80 zeigt an, dass du sehr stark vom Hochstapler-Phänomen betroffen bist.«
»Hochstapler-Syndrom-Test« online⁴
92 Punkte.
Wenn mich jemand für etwas lobt, denke ich, es seien nur höfliche Worte.
Wenn ich unterschwellig das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt, obwohl alles in Ordnung ist.
Wenn mich jemand fragt, ob ich dieses oder jenes Buch gelesen habe. »Wie, das kennst du nicht?«
Wenn jemand etwas zur Literatur und Kunst erzählt, was ich nicht verstehe.
Wenn ich gefragt werde, wann ich angefangen habe zu schreiben. »Mit 30!«
Wenn ich einen Text geschrieben habe und denke: »Das war’s. Mehr werde ich nicht schaffen.« Oder: »Das war nicht ich, sondern ein anderer.« Als wäre ich mein eigener Ghostwriter.
(Gedanken und thoughts)
Der Autor in mir ghostet mich, verschwindet von einem Tag auf den anderen, taucht ab, ich weiß nicht wohin, er reagiert nicht mehr auf mich und lässt sich wochenlang nicht blicken.
*
Ein Bekannter von mir hat sich einige Jahre lang als Arzt ausgegeben. Er verließ morgens die Wohnung, ging »in die Charité« und kam abends zurück zu seiner Freundin. Keinem fiel etwas auf. Wenn ich mich abends in einer Bar mit ihm unterhielt – er schrieb auch Texte – fand ich ihn sympathisch, nicht abgehoben oder elitär. Nachdem alles rausgekommen war, verließ er die Stadt, ging dahin zurück, wo er herkam, und übernahm die Firma seiner Eltern.
Einmal saß ich mit seiner Freundin in einem Café und sie erzählte begeistert von einer Kurzgeschichte, die er geschrieben hatte. Er könne so gut schreiben, sagte sie und erzählte mir die ganze Vater-Sohn-Geschichte. Ich sagte, dass ich mal eine ähnliche geschrieben hätte. Uns fielen immer mehr Ähnlichkeiten auf. Am Ende stellte sich heraus, dass es meine Geschichte war, die er als seine ausgegeben hatte. Ich war begeistert. Wenn er meinen Text stahl, dann hieß das vielleicht, dass er gut war. Und zum ersten Mal konnte ich Lob annehmen, weil in diesem Moment vermeintlich nicht ich gemeint war.
*
Etwas, das man war, ist man nicht mehr.
Sonst wäre man ja noch derselbe, nicht ein anderer.
Oder bleibt das, was man war, für immer in einem stecken?
Chantal Jaquet schreibt, der Klassenübergänger werde »[…] von offenen oder untergründigen Widersprüchen geplagt.« Er trage zwei Welten in sich, die der Herkunft und der Ankunft, und sei ständig auf der Hut, seiner Herkunft enttarnt zu werden.⁵
Dieses Gefühl, am falschen Ort, deplatziert, nicht an der richtigen Stelle zu sein. Müsste es nicht langsam vorbei sein damit, denken viele. Ich ja auch. Dabei ist es genau andersherum: Je mehr ich ankomme, je mehr Texte ich veröffentliche, Stipendien bekomme, Lesungen habe, desto wahrscheinlicher werde ich auffliegen. Der Turm wird immer höher, bald stürzt er ein. Bisher hatte ich nur Glück.
(Oder?)
Was aber, wenn ich »Selfmade«-Geschichten vom Aufstieg für Lug und Betrug halte, wenn ich nicht daran glaube, dass man sich nur anstrengen müsse, um nach oben zu kommen (weil ja sonst die meisten, nicht die wenigen, da oben wären), wenn ich Glück und Zufall für entscheidender halte als Wille und Leistung?
Ist das dann schon das besagte Phänomen?
Ist die Rede vom eigenen, selbstgemachten Erfolg nicht das gefährlichere?
Wenn ich von meiner Angst erzähle, aufgedeckt zu werden – enttarne ich mich dadurch selbst? Oder zeigt sich darin nur ein weiterer Schachzug? Wie der Moment in einem Film, in dem der Hochstapler vor dem zweifelnden Bankangestellten steht und sagt: »Ja, sicher, ich bin ein Hochstapler! Haha« und beide lachen. Die Selbstenttarnung enttarnt nicht, fügt nur eine neue Schutzschicht hinzu. Offen aussprechen, ein Betrüger zu sein, um zu versichern, keiner zu sein. Weil man in Wahrheit einer ist.
*
Ich lauere mir selbst auf, beobachte meine Bewegungen, achte auf meine Worte, suche in allem nach Unstimmigkeiten, misstraue mir und meiner Umgebung, gehe nach jedem Gespräch Wort für Wort innerlich durch, überzeugt davon, dass ich mich blamiert habe.
Mich jagt das Gefühl, ein Hochstapler zu sein.
Gewissermaßen jage ich mich damit selbst.
Ein Teil von mir will den anderen überführen, ihn entlarven und enttarnen.
Sieht denn keiner, dass ich eigentlich kein Autor bin?
*
Ich habe schon als Kind gerne hoch gestapelt. Die Gläser hinter der Theke, die Stühle im Saal, die Getränkekisten im Kühlraum. Aus Bierdeckeln errichtete ich meterhohe Bauwerke, in stundenlanger Feinarbeit. Der schönste und aufregendste Moment, wenn am Ende alles in sich zusammenfiel.
Ich war Smutje auf dem Dampfschiff. So hieß die Wirtschaft meiner Eltern. Ein Haus an einem kleinen Fluss in Grafrath bei München, ein Name, der mir damals wegen dem »Graf« darin edel vorkam. Mittags und abends arbeitete ich mit, polierte das Besteck, brachte die fertigen Gerichte an die Tische, räumte ab, spülte die Teller. Ich bereitete die Beilagensalate vor und stapelte sie zu Pyramiden.
Es gibt ein Spiel mit Bierdeckeln, das ich als Kind gerne spielte. Man nimmt einen Stapel Bierdeckel, platziert ihn genau mittig auf der Tischkante, stößt ihn mit einer geschickten Bewegung des Handrückens in die Luft und versucht ihn mit einer Drehbewegung der Hand zu schnappen. Ein Stammtisch-Spiel. Man beginnt mit einem oder zwei Bierdeckeln und stapelt immer höher. Bis der Stapel nicht mehr zu greifen ist und die Deckel über den Tisch fliegen.
*
Die Stimme des Misstrauens, die sich in mir eingenistet hat, die sagt, »Hör auf, lass es sein!«, die Selbstgespräche führt, die mich mit »Du« anspricht, während das Schreiben versucht, »Ich« zu sagen.
Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, nicht wirklich hinzugehören, wo ich jetzt bin, ergibt sich nicht aus der Psychologie, sondern aus der Polarität von Herkunft und Ankunft, aus der sozialen Distanz, die ich zurückgelegt habe, die zwischen mir und mir selbst entstanden ist.
Wenn ich an einem Text sitze, sammle ich zuerst alle Episoden und Momente, die mir einfallen, schreibe sie auf, horte sie wahllos, lege eine Art Vorrat an. Erst dann sortiere ich, setze die Teile zusammen, türme sie zu einem Text auf, der in jedem Moment …
Ich sitze am Tisch, mit einem Stapel Papier vor mir, konzentriere mich, mache eine schnelle Handbewegung und hoffe, dass mein Trick gelingt.
¹ Uta Eisenhardt: »›Medizinmann‹ auf Kreuzfahrtschiff, taz, die tageszeitung, 14. Juli 2016, auf: https://taz.de/Prozess-gegen-Pseudoarzt/!5319218/ (zuletzt aufgerufen: Mai 2023).
² Wikipedia: »Hochstapler«, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Hochstapler (zuletzt aufgerufen: Mai 2023).
³ Stephan Lamby: »Der Hochstapler – Die schwindelerregende Karriere des Postboten Gert Postel«, ZDF, 2001, auf: https://www.youtube.com/watch?v=E2JqKLpEa4A/ (zuletzt aufgerufen: Mai 2023).
⁴ Tina Pichler: »Der Hochstapler-Syndrom-Test«, auf: https://www.tinapichler.com/hochstapler-syndrom-der-test-allgemein/ (zuletzt aufgerufen: Mai 2023).
⁵ Chantal Jaquet: »Zwischen den Klassen: Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht«, Konstanz University Press, 2018, S. 154.