Droste Glossar
Das Droste Glossar fasst unter verschiedenen Begriffen wichtige Merkmale von Droste-Hülshoffs Schreiben zusammen. Die Glossar-Einträge sind von ihren Übersetzer*innen verfasst. Die Einträge setzen sich mit wichtigen Fragen des Übersetzens auseinander – mal analytisch, mal humorvoll, mal poetisch. Dort erfahrt ihr zum Beispiel, was es mit den »Apokalyptischen Reiter*innen des Lyrikübersetzens« auf sich hat.
- BARMEKIDEN
Die Barmekiden gab es tatsächlich, genauso wie den berühmten Kalifen Harun Al Raschid (763–809 n.Ch.) und seinen Großwesir Jaafar Al Barmeki. Und wie Haruns Schwester, die nach arabischer Überlieferung Al Abbasa und nicht Maimuna heißt wie bei Annette von Droste-Hülshoff. Die Enthauptung des Großwesirs Jaafar und die Tragödie der Barmekiden, ihre Vernichtung und Verbannung sind auch historisch belegt. Die Liebesgeschichte zwischen dem Großwesir Jaafar und Al Abbasa konnte bis heute nicht bestätigt werden.
Mein Einstieg in die Übersetzung der Orientgedichte von Annette von Droste-Hülshoff war eine Version dieser Liebesgeschichte aus der Feder von Georgy Zeidan (1861–1914 n.Ch.), die mir schon früher begegnet war und mich in meiner Jugend sehr aufgewühlt hatte. Dieser libanesische Romancier hat die lebendigsten historischen Romane über die Geschichte Arabiens geschrieben – und dabei einige Begebenheiten ausgeschmückt.
Bis heute sehe ich Jaafar, den schönen und mächtigen Wesir, heimlich seine wunderschöne Geliebte Al Abbasa treffen. Al Abbasa, die Gebildete, die musisch Begabte, die betörend singen, Oud spielen und tanzen konnte. Bis heute sehe ich ihre edle Kopfbedeckung, mit den kostbarsten Diamanten besetzt, und ihr Seidengewand, bestickt mit den Worten ihrer eigenen Lyrik. Dieser Roman ist eine Welt voller Farben, Düfte, Leidenschaft, Spannung und Grausamkeit.
Jenes Paradies berauschender Liebe, der berauschenden Schönheit der Menschen, Paläste und Gärten war gleichzeitig eine Welt voller Machtkämpfe und Intrigen, die für die Barmekiden in einem Massaker endeten. Jaafar, Al Abassa und ihre zwei kleinen Söhne wurden ermordet. Dem folgte die gnadenlose Verfolgung des ganzen Stamms der Barmekiden. Es floss viel Blut in den Schlössern, den Gemächern, Höfen und den heimtückischen Dünen der Wüste. (→DROSTE GOTH).
Einige Stimmen aus der historischen Forschung meinen, dass es niemals eine Al Abbasa gegeben habe, andere sagen, dass es sie gegeben habe, aber dass sie eine fromme, wohlerzogene Schönheit gewesen sei, die niemals etwas mit Jaafar zu tun gehabt habe. Dass diese Geschichte erfunden worden sei, um die Grausamkeit zu rechtfertigen, mit der der Kalif Harun Al Raschid die Barmekiden beseitigt hatte. Waren sie ihm zu mächtig geworden und er hatte die Befürchtung, bald zu ihrer Marionette zu werden?
Was immer damals wirklich passiert sein mag, diese Geschichte hat Annette von Droste-Hülshoff tief bewegt und sie zu dem Gedicht Der Barmekiden Untergang inspiriert.
(Kaouther Tabai)
CHRONISCH
Ich sitze mit meinem Laptop auf dem Sofa, in eine Decke eingewickelt, und das an einem Tag, an dem ich mich eigentlich krankgeschrieben habe. Hier kann ich ein Kissen hinter meinen Kopf legen, um eine Art Kopfstütze zu schaffen, was an einem Erschöpfungstag dringend notwendig ist. Falls du siehst, wie ich mein Kinn auf meine Faust stütze, oder meinen Kopf gegen eine Wand lehne, ist es ein untrügliches Zeichen, dass sich irgendwo hinten in meinem Schädel die Erschöpfung heranschleicht.
Ein oder zwei Jahre, bevor ich chronisches Erschöpfungssyndrom entwickelte, fing ich an, Annette von Droste-Hülshoff zu übersetzen. Ich muss gestehen, dass ich in diesen ersten Monaten unserer Bekanntschaft die Sätze, die auf ihre Zugehörigkeit zum Reich der Kranken verweisen, einfach überlesen habe:
»Von meinem hiesigen Leben kann ich Ihnen wenig sagen, - Sie sehen e i n e n Tag, damit haben Sie A l l e gesehn, _ Ich schreibe, lese, was mir die Güte meiner Freunde zukommen läßt, stricke ein klein, klein wenig (Abends) und bin zur Abwechslung mitunter unwohl...« –Brief von Droste-Hülshoff an Henriette von Hohenhausen (14. Januar 1840)
Drostes Neigung zu Kopfschmerzen, ihre Kränklichkeit als Kind, die Monate, in denen sie wegen immer wieder auftretender und langer Krankheiten kaum schreiben konnte, werden zwar in den diversen Biografien im Internet erwähnt, aber selten mit mehr als einem Satz. Erst als ich meine eigenen zaghaften Schritte im Reich der Kranken machte, durchfuhr mich die Erkenntnis. (Dieser Schauermoment, in dem die Leserin einen ansonsten versteckten Teil ihres Lebens im Text gespiegelt sieht, ist immer sehr besonders – und was ist eine Übersetzerin anderes, als eine sehr gründliche Leserin?)
Ich glaube nicht, dass man dieselbe Identität wie die Autorin haben muss, um sie zu übersetzen. Wie könnte ich denn? Ich bin keine deutsche Adelige des 19. Jahrhunderts, und vieles aus dem Leben von Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff, um Annettes vollen Titel zu nennen, ist mir buchstäblich fremd. Aber natürlich wird unser Verständnis von einem Text durch die eigenen Erfahrungen geprägt, und mögliche Interpretationen werden übersehen, wenn die Übersetzer, Biographen und Kritiker fast alle männlich, hetero und gesund sind. (Ich musste einmal lachen, als ein Übersetzer darauf bestand, dass ein bestimmtes Gedicht von Droste auf jeden Fall einen männlichen Erzähler haben müsste – »Ansonsten wäre es ja lesbisch!«. Äh, ja.)
Wie lesen und übersetzen wir Droste, wenn wir sie als chronisch krank wahrnehmen? Vielleicht würden wir ihre Frustration in Gedichten wie Am Thurme darüber, dass ihr Leben als Frau so eingeschränkt ist, genauer untersuchen. Oder wir würden ihr großartiges Evozieren des Unheimlichen näher beleuchten: Die Autorin Polly Atkin schreibt mit großer Überzeugungskraft von der Traumlandschaft, die sich durch Krankheit entfaltet, und von der dadurch verschwommenen Grenze zwischen Traum und Realität, zwischen Körper und Umgebung. Vielleicht würden wir darüber nachdenken, warum Droste der kurzen Form des Gedichts treu blieb und nichts Längeres als eine Novelle schrieb, obwohl der Roman zu ihren Lebzeiten immer beliebter wurde: Das Gedicht wird zwar heutzutage als schwierig kritisiert, aber für Autorinnen und Leserinnen mit begrenzter Energie ist die Kürze von Lyrik ein großer Vorteil. Vielleicht würden wir innehalten, wenn Droste in Briefen und Tagebucheinträgen schreibt, dass sie einsam sei.
Vor allem wünsche ich mir, dass wir Droste sehen, und zwar in all ihren Facetten. Dass wir uns ihr annähern. Und dass irgendwann eine Leserin der englischen Übersetzungen auf einem Sofa sitzen wird – den Kopf auf ein Kissen gestützt, mit Schmerzen hinter den Augen und Erschöpfung hinten im Schädel – und diesen sonst versteckten Teil ihres Lebens in der Lektüre wiederfindet.
(Annie Rutherford)
DROOMGLOSSARIUM
als ik vertaal, vertaal ik dag en nacht, tot in het rijk der dromen plagen me de vertaalnoden en -angsten, de vreugde en de kwelling of er een woord geslaagd of onbevredigend is gebleken. ‘s nachts ben ik op zoek naar de naam van een straat die niemand kent; kan ik op een menshoog vel papier het geschrevene niet ontcijferen; liggen woorden op mijn tong; plaats ik bepaalde zinnen en regels in cursief; vind ik in een kelderruimte op een muur het zwartwitnegatief van een letter; heb ik moeite de woorden liefhebben en spellen uit te spreken.
01 mei, droom ─ een lichte ruimte met een bar. alles is schoon en blinkt. de zon schijnt door een open deur. een hond rent over de bar. op het alleruiterste randje. op de grens van het mogelijke of geoorloofde. zijn pels lijkt die van een kat. zwartwit gevlekt. het zwart wordt steeds dieper en glanzender. iedereen bewondert zijn pels. de hond is zeer snel. hij wordt ouder terwijl hij rent. als ik nader, wordt het zwart bruin. de bruine vlekken marmeren. en de hond is groter, lomper, gemoedelijker minder flitsend als eerst. ik roep: ‘schröter’.
da plötzlich fuhr ein plumper schröter jach, vierde regel van het vierde couplet in der hünenstein. schröter = vliegend hert. ik ben van het woord vliegend hert gaan houden. van het mooie beeld: bovenkaken die op een gewei lijken. een vliegend hert klinkt blitser dan schröter. ik kan het vliegend hert hart niet loslaten. maar het breekt de versmaat; vliegt over de grens van het mogelijke, geoorloofde. toch vat ik door de droom sympathie op voor de lompere, gemoedelijkere schröter en kies voor het eveneens gemoedelijker nederlandse keverwoord: tor.
(Annelie David)
DROSTE GOTH
Das Element Wasser. Den Vers: »In der Bucht wiegt ein Kahn«, übersetzte ich mit: »in the bay a swaying boat«. Ah, das ist einfach, und weiter: »ausgestreckt der Fischer drin, / Und die lange Wasserbahn / Schaut er träumend überhin«. Als ich fortsetzte mit: »The fisher stretched inside out long / And the lenghty water way / He looks over dreamfully«, kam mir aus der Zoomrunde des Trans|Droste-Quartetts (→THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION ) vergnügtes Entsetzen entgegen. Der Fischer inside out – o no!!! Aber wieso? Das wäre, nun ja, der umgestülpte, umgekrempelte, aufgeschlitzte Fischer, der dort in seinem Kahn wohl nicht unbedingt träumend die lange Wasserbahn überblickte. Ein Splatter-Idyll!
Was schrieben wir am Ende hin? »In the bay a swaying boat, / The fisherman stretched out long inside, / And over the lengthy water way / His eyes wander so dreamily«. Ja, genau: »stretched out long inside«. Das ist korrekt. Nun kann sich der intakte und unverletzte Fischer in seinem Boot lang ausstrecken, ohne Gefahr zu laufen, von einer Übersetzerin irrtümlich umgestülpt und auf links gedreht zu werden. Das elementare Idyll darf sich weiter entfalten, es ruht milde schaukelnd im Räumlich-Zuständlichen, der Fischer scheint zu dämmern und spricht vielleicht schon wie im Schlafe: »›Wasser‹, spricht er, ›Welle gut, / Hauchst so kühlig an den Strand. / Du, der Erde köstlich Blut, / Meinem Blute nah verwandt« – Moment, was ist das? Hat der Fischer etwa geahnt, welcher Gefahr er da soeben knapp entronnen ist? Warum kommt er auf sein eigenes Blut zu sprechen? Fühlt er es kostbar, leicht bedrohlich in den Adern rauschen? Drängt es schon hinaus? Und weiter: »Schlürf’ ich dein geläutert Gut, / Und du wirst mein eignes Blut«, das Wasser also werde dann zum eignen Blut, wenn er, zurück in seiner Fischerhütte, einen Schluck (→SPUK UND SCHNAPS ) davon nimmt, geläutert (das Wasser) und gut.
Was für eine seltsam profane Eucharistie – die Verwandlung von Wasser in Blut. Als sähe der Fischer, wohin er auch schaut, sein potenzielles Blut in den Flüssen strömen, in denen er fischt. Es drängt sich das Bilderarsenal des Weltendes (→MOORTOPF ) – Ströme von Blut! – hinein in das Idyll, was bei Droste übrigens gar nicht so selten ist (→Die todte Lerche, →An***) . Sounds like Dark Metal Droste! Zumindest im first draft. Doch der Fischer fühlt sich indes schon ganz schläfrig, es fallen ihm die Augen zu, und: »Leiser plätschernd schläft er ein, / Und das Meer wirft seinen Schein / Um Gebirg und Feld und Hain; / Und das Meer zieht seine Bahn / Um die Welt und um den Kahn«. Und ich kann ihm nur wünschen: Schlafen Sie gut, lieber Fischer. Träumen Sie bitte einen anderen Traum. Ich versichere Ihnen: Es war nur ein Versehen. Es wurde längst korrigiert.
(Monika Rinck
DROSTES KOPFKINO
Wie konnte es mir gelingen, das Arbeitszimmer von Annette von Droste-Hülshoff zu betreten, ihre Gedichte zu verstehen und ihre Worte zu übersetzen?
Nach langer Recherche und mit von Unterlagen schwer gewordenem Gepäck erklomm ich Schritt für Schritt die lange Treppe zu ihrer Gedankenwerkstatt.
Als ich ihr Arbeitszimmer betrat,
Da grüßten mich viele Stimmen;
»Nicht bin ich Hassan, und Jener nicht,
Doch halt’ ich [Annettes] Gebote,
Drum hat [sie] gesegnet das Antlitz mir,
Daß ich Jegliches Freund [ihr] erscheine.«Sofort wurde mir klar, warum Worte allein mich bisher nicht weitergebracht hatten. Es waren die Gemälde und Tapeten im Rüschhaus und den Zimmern, in denen sie wohnte, die vor meinen Augen zu einem Film wurden. Ich begann ihre Gedichte als sich langsam bewegende Bilder zu erkennen. Jedes Gedicht wurde mir zu einem Kurzfilm, der eine Geschichte erzählte, eingeteilt in Sequenzen, unter Einsatz von Metrik und Reim als Mittel der Regie – dies erschien mir umso erstaunlicher als die Gedichte aus einer Zeit stammen, in der dem Erzählen nur wenige visuelle Medien zur Verfügung standen.
Ich begann also, ein Gedicht als Bild bzw. als Kurzfilm zu betrachten. Durch diese visuelle Herangehensweise gelang es mir, passende wortgewaltige Bilder heranzuziehen. Ich musste die Worte nicht wiedergeben, sondern die Filmszene auf Kurdisch (Kurmancî) spielen lassen.
Dieser Blick half mir nicht nur bei der Übersetzung der Gedichtsammlung Klänge aus dem Orient, sondern auch bei einzelnen Balladen Droste-Hülshoffs wie Vorgeschichte und Der Knabe im Moor. So hoffe ich auch dem westfälischen Spökenkieker, dem Gräberknecht und der Spinnlenor’ (→SPUK UND SCHNAPS) im kurdischen Heideland (→WESTFALEN INTERNATIONAL) ein neues Zuhause gegeben zu haben.
(Şahin Kürküt)
EI DER DAUS!
»Wie? hat's geklingelt? ei der Daus,
Zum Zweitenmale! schnell hinaus!«
»Was that the buzzer? May lightning strike me down,
The second time already! Hurry, go out!«
Ei der Daus: »Gee!« is what I found, but maybe something like this: »May lightning strike me down«?
Or »the devil’s about«; this is from the Bible: 1 Peter 5:8-14.
Ich würde eher etwas Klangliches nehmen: »hohoho« – oder: »For God‘s Sake!« Oder sogar »OMG!«. But I just learned, you are right: There’s the devil in it. (→SPUK UND SCHNAPS)
»Daus m. ›Teufelskerl, Leichtfuß‹, regional auch ›Teufel‹ (18. Jh.), zuvor ›Schelm, Betrüger‹ (15. Jh.). In der Formel was der Daus (18. Jh.), ei der Daus (Anfang 19. Jh.; euphemistisch umgedeutet ei der tausend) Ausdruck des Erstaunens (s. auch potztausend). Nach FEW 3, 195 vielleicht aus gall.-mlat. dusius ›Dämon‹.« [Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache].
»Was that the bell? By jove, oh,
The second time already! Hurry, go out!«
Sehr gute Lösung, finde ich. Fremde Götter, halbe Teufel.
(Monika Rinck)
ES
Es: Kleines Wort – große Wirkung, wie wir spätestens seit Stephen Kings gleichnamigem Roman wissen. Überall in Drostes Gedichten versteckt sich dieses unscheinbare Pronomen, gern auch apostrophiert am Rocksaum eines Verbs: An allen möglichen (und unmöglichen) Stellen »flattert es«, »wirbelt’s« oder »ist’s« eben »schaurig«. Es-Konstruktionen sind zwar ein typisches Merkmal der zum Bürokratischen neigenden deutschen Sprache, die damit geschickt die direkte Benennung eines Handlungsträgers (und Verantwortlichen) vermeidet. Gleichzeitig ist ihre Häufigkeit in Droste Naturgedichten auffällig und verbindet sich gut mit der unheimlichen Belebtheit der Natur, die sie in Szene setzen. Das Schaurige in Der Knabe im Moor entsteht nämlich genau dadurch, dass über mehrere Strophen hinweg offen gelassen wird, ob die Landschaft, durch die das verängstigte Kind läuft, einfach nur Landschaft mit waberndem Nebelmeer ist oder eben doch eine Meute von Hexen und anderen halb menschlichen Kreaturen verbirgt. Überall in Drostes Gedichten, wo Natur sich verhält, als wäre sie ein handelndes Subjekt, kommt »es« vor, »dieses Wort«, wie der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich in seiner Vorlesung Arbeiten mit Ödipus schreibt, »mit einem umgangssprachlich selber sehr diffusen Sinn, der bis ins Großartige, sagen wir, Kryptodämonische oder Kryptogöttliche gesteigert sein kann in Formulierungen wie ›Es donnert‹, ›Es blitzt‹, ›Es regnet‹, wo also das Impersonale die Personalia vertritt, die man ungestraft nicht kennen darf« – und damit wären wir auch schon wieder bei Stephen King.
(Anneke Lubkowitz)
FLORIST
Florist (m/f/d): Despite appearances, the Florist is the most dangerous member of the →FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION . This is because even though the →GAMBLER might want to make more radical changes, the Florist will make drastic alterations that are within the system that is given. Florists are extravagant and willing to go against everything that everyone else says, so long as the translation “feels right”. Semantics may be damned, meter abused, the Gambler’s suggestions frowned upon. The important thing is for the arrangement to come together. Sometimes, the Florist has a historical air and will try to introduce elements from previous centuries (→UNGEHEUER BIS MEGA ). Words from different eras, synonyms with slightly sinister or distorting meanings (→NICHT DAS BEKANNTE GESPENST ). Everyone will be a little annoyed but sometimes the Florist finds a rare word in the target language that conveys all of the meanings of the word in the original and everyone is very excited (→EI DER DAUS ). Especially the →METER MAID . This word cleared up a huge stumbling block in the beat. The Florist is about making the translation pretty. Like a bouquet, you have to live with it and you don’t want to regret skimping on a few craspedia later. For the Florist, the most important thing is that the translation makes you smile.
(Shane Anderson)
GAMBLER
Gambler (m/f/d): (one of →THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION ) The Gambler mostly waits for everyone to reach a dead end. Then the Gambler suggests doing something crazy. The Gambler says, the odds are against us, but I’m telling you, what we need to do is double down on this word here and give up on those four over there entirely. The →SEMANTICS MAN sighs while the →METER MAID counts on their fingers. The →FLORIST sides with the Gambler but is also scared of the Gambler. Once the Gambler gets started, they always want more fireworks. And more and more. The Gambler isn’t adverse to demolition. The Gambler says, if we want a contemporary living room kitchen, then this wall just has to go. The Gambler doesn’t believe in the protection of historical buildings. They believe in rebirth in ruins. The Gambler tells everyone to be at liberty to make drastic changes. The original does weird things of its own (→SELTSAME ENDEN ), weird things that cannot be translated into the target language. So, the Gambler will say, we will have to find another solution, why not through some other form of equivalence? If the grocery store is out of rhubarb, you don’t try to make a rhubarb pie with celery, even if it does look rather similar. Instead, you buy strawberries. Raspberries. Blueberries. Lemons, whatever (→KARTOFFELN IN DER SCHAALE ). It’s just gotta be as sweet. The Florist agrees but the Gambler believes even less than them in the concept of fidelity. For the Gambler, every text is a new one, even if it is a translation, and so we should stop trying to do the impossible. The Gambler has to be contained or allowed to drift away, onwards to new casinos, new pastures where they can be as experimental as they want. In addition to being wildly imaginative, the Gambler must also have a thick skin. Critique is inevitable.
(Shane Anderson)
GENDER TROUBLE
Wer ist das lyrische Ich? Besonders im Abschnitt »Sprachübungen« der Klänge aus dem Orient stellt sich diese Frage. In den zwei Gedichten mit dem Titel verliebt taucht das unbestimmte Ichauf eine spannende und herausfordernde Weise auf. Wer annimmt, dass die Liebe in einem Text aus dem 19. Jahrhundert wohl eine Liebe zwischen Mann und Frau sein wird, wird im Ich des ersten Gedichts verliebteindeutig einen Mann sehen: Er hat sich in Zillah verliebt, als sie ihren Schleier gehoben hat. Wobei, es könnte grammatikalisch genauso eine Frau sein, zumal der Diwan, das Bad und die Gärten eher weiblich konnotiert sind. Der Vorteil der deutschen Sprache ist aber, dass es unklar bleiben kann. Das geht auf Französisch nicht. Schon im Titel geht es nicht. Das Adjektiv muss männlich oder weiblich sein: amoureux oder amoureuse. Die einzige Möglichkeit, das Geschlecht im Titel loszuwerden, wäre aus dem Adjektiv ein Adverb zu machen: en amour. Aber lohnt es sich, deswegen den Zusammenhalt der »Sprachübungen« zu brechen, die alle mit Adjektiven betitelt sind?
Noch heikler ist das zweite Gedicht verliebt. Wenn der erste Vers (»Mutter, löse die Spangen mir!«) auf ein weibliches Ich hindeutet, dann stellt sich die Frage, warum dieses Mädchen Fieber bekommt, wenn es im Garten andere Mädchen sieht: Verliebt sie sich in die Freiheit oder in die Mädchen? Hätte sich die Dichterin eine so klare Andeutung auf lesbische Liebe getraut? Auf der anderen Seite wäre ein männliches Ich mit Spangen, ein von seiner Mutter eingesperrter junger Mann, der freie Mädchen durchs Fenster sieht, als Motiv auch ein Bruch mit literarischen Gender-Normen. Aber wie im ersten verliebt bleibt die Frage auf Deutsch offen, während die französische Sprache leider entscheiden muss. Zumal am Ende des Gedichts die zwei Zeilen »Blind geworden bin ich schon ganz« und »Taub werd’ ich nächstens werden« auch Adjektive enthalten, die schwer neutral bleiben können. Wobei es doch eine Möglichkeit gäbe, die Sätze neutral zu formulieren, so etwa:
La cécité déjà m’est tombée dessus,
La surdité bientôt me frappera aussi
Schließlich haben wir eine sozusagen »gleichberechtigte« Entscheidung getroffen, indem wir dem ersten verliebt ein männliches Ich und dem zweiten ein weibliches zugewiesen haben. Eine neutralere Fassung wäre jedoch möglich, wenn wir auf bewusst anachronistische Weise auf die inklusive Schreibweise zurückgreifen würden: Dann wären beide Gedichte amoureu.x.se betitelt.
(Barbara Fontaine)
HYPOTAXE
Ein Element bei Droste-Hülshoff, das toll ist, aber eine besondere Herausforderung fürs Übersetzen darstellt, ist ihre Hypotaxe. Sie entspricht einem Überfluss an Grammatik, führt die Grammatik aber auch an ihre Grenzen und darüber hinaus. Was ist das für ein Terrain, dieses »darüber hinaus«? Was passiert da poetisch? Drei Gedichtbeispiele: In Abschied von der Jugend findet man den ersten Punkt, das erste Satzende, in Vers 24... Davor entfaltet sich weitgestreckt eine Metaphorisierung des Älterwerdens:
Wie der zitternde Verbannte
Steht an seiner Heimat Grenzen
Rückwärts er das Antlitz wendet,
Rückwärts seine Augen glänzen,
Winde die hinüber streichen,
Vögel in der Luft beneidet,
Schaudernd vor der kleinen Scholle,
Die das Land vom Lande scheidet;
[...]
So ...
Die Hypotaxe bewirkt in diesen Zeilen eine Verlagerung oder Verschiebung des alternden Subjekts: Die Augen machen sich selbständig, Winde schieben sich autonom ein, das Subjekt wird der Landschaft (der Jugend) schließlich ganz und gar implizit (»... beneidet«, »Schaudernd ...«). Dieses Verschmolzensein mit dem, was verlassen werden muss, ist der poetische Sinn der Fügung: Essteigert den Schmerz. Noch direkter aus der verkörperten Äußerung des Affekts kommt die Hypotaxe in Die todte Lerche, wo das Subjekt mit Blick auf den toten Vogel erkennt:
Denn auch mein Leben wird verscheinen,
Ich fühl’s, versungen und versengt.
Dann du mein Leib, ihr armen Reste,
Dann nur ein Grab auf grüner Flur
Und nah nur, nah bei meinem Neste,
In meiner stillen Heimath nur!
Hier hat sich die Satzstruktur schon aufgelöst, an die Stelle von Grammatik treten hochbewegt ausgestoßene Satzfragmente, in deren Reihung die Hypotaxe als vollständiger Satz nur noch virtuell da ist, und die deshalb aber umso gestischer und performativer funktionieren. In anderem Sinne performativ wirksam sind die überlangen Sätze in Die Mergelgrube. Hier kommt das Landschaftsmotiv wieder vor, jetzt im Kontext einer zeitgenössischen Theorie geologischer Formungsprozesse:
Nur wenige [Steine] hat dieser Grund gezeugt,
D e r sah den Strand, und d e r des Berges Kuppe;
Die zorn’ge Welle hat sie hergescheucht,
Leviathan mit seiner Riesenschuppe,
Als schäumend übern Sinai er fuhr,
Des Himmels Schleusen dreißig Tage offen,
Gebirge schmolzen ein wie Zuckerkand,
Als dann am Ararat die Arche stand ...
Die rasche, nicht abreißen wollende Bildfolge und die ständig wechselnden Subjekte, der Einschub (»Des Himmels Schleusen...«), das Aufeinandergetürmte, Ineinanderstürzende der Verse: sind Mittel, den geologischen Aufruhr performativ im Text selbst stattfinden zu lassen.
Dafür müssen, je nachdem, wie die Hypotaxe in der Zielsprache jeweils funktioniert, Übersetzer*innen eigene Lösungen finden. Die spezifischen Effekte der Hypotaxe jedenfalls unbedingt rekonstruieren!
(Daniel Falb)
INTERPUNKTION
»Punctuate the translation, don’t translate the punctuation« ist generell mein Motto. Unterschiedliche Sprachen haben unterschiedlichen Regeln zur Interpunktion: Dieser Doppelpunkt wäre auf Englisch ein Semikolon, und wenn ich jedes deutsche Komma ins Englische übertragen würde, hätte man am Ende eine fettige Kommatasuppe. In der Zielsprache versucht man also den Stil der Autorin nachzuahmen, aber mit leicht verändertem Werkzeug.
Allerdings! Was macht man, wenn man eine Autorin aus dem 19. Jahrhundert übersetzt? Die englische Grammatik hat sich in den letzten 150 Jahren einigermaßen verändert. Soll man Zeichen setzen, als ob man eine Schriftstellerin aus dem Zeitalter wäre, oder so, wie ein*e Leser*in es heutzutage verstehen würde? Wir haben uns entschieden, eher zu versuchen, den Stil aus der Zeit beizubehalten, mit deutlich mehr Kommata und Bindestrichen, als man es heute gewohnt ist. Ich gebe zu, meine ordentliche Grammatikseele war leicht verletzt. Aber war es die richtige Entscheidung? Ja. Wahrscheinlich. (→Die Mergelgrube, →HYPOTAXE)
(Annie Rutherford)
JAMBEN GEGEN TROCHÄEN
Das Sonett wird in Großbritannien oft als eine besonders »englische« poetische Form dargestellt. Was eigentlich ja totaler Quatsch ist – die Ursprünge des Sonetts findet man in Italien und viele europäische Sprachen feiern es. Allerdings stimmt es, dass man auf Englisch besonders gut in Jamben (Versfüße, in denen auf eine schwache Silbe eine schwere Silbe folgt) schreiben kann. Irgendwie muss man kaum nachdenken, um ununterbrochen Blankvers zu schreiben oder zu sprechen:
The Hobbit is a very funny book.
I far prefer it to the trilogy.
And what’s with all the wars that Frodo fights?
Or does he fight? Does he just run away?
(LOTR fans, please don’t @ me.)
Das ist sehr praktisch, wenn man Droste ins Englische übersetzen will, da sie eine Vorliebe für Jamben hat. Aber natürlich hat Droste gekonnt unterschiedliche Metren (→METER MAID) eingesetzt – und wenn sie den Trochäus, den Zwillingsbruder des Jambus (eine schwere Silbe, danach eine schwache Silbe), verwendet, ist es plötzlich schwieriger. Natürlich kann man schon auf Englisch in Trochäen schreiben:
Underneath the hill there is a river.
Yesterday I went into the village.
Aber irgendwie muss man sich echt dabei Mühe geben. Die vielen trochäischen Wörter, mit denen man auf Deutsch ein Satz anfangen könnte, gibt es einfach nicht so oft auf Englisch: meine, deine, ihre werden die knackigeren my, your, her. Und die schwachen Silben am Ende vieler Wörter, mit denen man einen trochäischen Vers beenden kann, sind auch nicht so häufig auf Englisch.
Bei der Übersetzung kann man also entweder die Trochäen in Jamben übersetzen – was zwar eine leicht andere Wirkung hat, aber sich oft flüssiger auf Englisch liest – oder man kann bei Trochäen bleiben, und das Risiko eingehen, dass das Englisch vielleicht verkrampft wirken könnte.
Wir haben es bei den Droste-Übersetzungen mal so, mal so gemacht. Und eigentlich gibt es bei der Übersetzung keine »richtige« Entscheidung. Aber eine falsche Entscheidung? Vielleicht. Und weiß man als Übersetzerin, welche man getroffen hat? Oft nicht …
(Annie Rutherford)
KARTOFFELN IN DER SCHAALE
Warm oder kalt? »Ach, ich habe mich in den letzten vier Jahren, seit ich krank war, sehr verwöhnt, wenigstens in allerley Wunderlichkeiten zugelassen, z.b. nur Eins zu erwähnen, frühstücke ich erst um halb Elf, kalte Milch mit kaltem Wasser vermischt, oder mit etwas kaltem Kaffee, esse zu Mittag Nichts wie Kartoffeln in der Schaale, mit etwas allemahl kaltem Fleisch, - welche Thorheit! und doch hat sich meine Natur so dran gewöhnt, daß warme Speisen mich, schon nach einigen Tagen krank machen, deshalb bin ich immer unwohl in Münster.«
Wie hat sie denn die Kartoffeln gegessen, warm oder kalt? Warm Food, cold food. Warum isst sie denn kaltes Essen, wenn sie weiter oben geschrieben hat, dass sie es nicht verträgt? Weil auch warmes Essen sie krank macht, und zwar schon nach wenigen Tagen. Kaltes Essen scheint ja noch besser zu gehen. Teils, teils, oder? Was war denn nun die unverträglichere Zubereitung? Warm, glaub ich, aber vielleicht war das Essen in Münster einfach besser, und etwas üppiger. In Münster? What kind of potatoes are those? Ich bin sicher, das sind Bratkartoffeln. Nein, Pellkartoffeln. »Nichts wie Kartoffeln in der Schaale«; das sind definitiv Pellkartoffeln, also nicht die Schale (als Geschirr), sondern die eigenen Schalen, die Kartoffelschale. Hörmal, das ist Westfalen (→WESTFALEN INTERNATIONAL, da werden die Dinger nicht gebraten. Wirklich nicht? Okay, wir werden fragen. Gut, wir fragen.
(Monika Rinck)
KLASSIKER
Die Übersetzung der Klänge aus dem Orient ist im Laufe meiner mehrjährigen übersetzerischen Tätigkeit meine erste ernsthafte Beschäftigung mit einem klassischen Text, eine gute und bereichernde Erfahrung, aber die Frage wird sich weiter wiederholen:
Warum übersetze ich nicht (oder ungern) Klassiker der Literatur?
1. Unser Team für die Übersetzung der Klänge aus dem Orient besteht aus erfahrenen, interessierten Übersetzerinnen und Übersetzern, die viel Wissen und Können mitgebracht haben. So haben wir viel Zeit verwendet, online Unterhaltungen geführt, einander geschrieben, um zu verstehen, was »dürre Mäuler«bedeutet (Maultiere), und »Schlauch« (Wasserschlauch als Trinkgefäß), und »Flaum« (Feder zum Messen der Windrichtung) und »Windsbraut« (Wirbelsturm) und »Spindel« (Galgen) und …; wir haben uns ausgetauscht, um zu begreifen, wer Zillah ist und welche Stellung die weiße Sklavinhat, und wie um Gottes willen man auf »Normaldeutsch« »nach Mittag stand gewendet«sagt und »unter Asch, dem strahlenden Zelte«usw. usf. Ganz zu schweigen von der Zeit, die – so meine Vermutung! – jeder und jede von uns alleine in die Auseinandersetzung mit den Texten investiert hat!
Und wohlgemerkt: Hier handelt es sich um eine gut organisierte und fachkundig unterstützte Auftragsarbeit. Wir haben auf unsere Fragen sofort kompetente und sachdienliche Antworten bekommen, Quellen wurden uns empfohlen. Aber was, wenn ich verloren und einsam so einen Text vor mir hätte, ohne jede Hoffnung auf Unterstützung und Anleitung?
Im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit als Literaturübersetzer habe ich mich stets gefragt: Darf ich mit meiner Zeit als Übersetzer so großzügig und luxuriös umgehen? Für wen und wofür übersetze ich überhaupt? Nicht für Bestände der Bibliotheken, nicht für kleine exklusive Fachkreise, nicht für die Literaturgeschichte, nicht für Verleger*innen, die mit einem reichhaltigen Literaturprogramm angeben, nicht wegen Literaturpreisen – aber wofür dann?
Für Menschen, die heute und jetzt leben, in einer Welt, die sich rasant entwickelt und fortwährend verändert, in einer Welt, in der die Errungenschaften von heute schon morgen veraltet sind, und – in meinem persönlichen Fall als Iraner – für Menschen, die seit einer Ewigkeit unter diktatorischen Verhältnissen leben und vieles entbehren müssen, u.a. auch einen regen und lebendigen Kontakt mit anderen Nationen.
Darf ich als Übersetzer diesen Menschen den Schnee von gestern auftischen? Auch wenn dieser Schnee hochliterarisch, wertvoll und respektabel ist?
Und noch ein Zweifel, den ich immer gehegt habe und der sich bei einem Blick in die Editionsgeschichte der Klänge aus dem Orient bestätigte: Wen übersetzt man, wenn man einen klassischen Text übersetzt? Die eigentliche Autorin? Oder einen hochangesehenen Sprachwissenschaftler, der das Original interpretierend bearbeitet hat?
2. Sprache ist etwas Lebendiges für mich, lebendig im Sinne von Lebewesen. »Lebewesen sind organisierte Einheiten, die u.a. zu Stoffwechsel, Fortpflanzung, Reizbarkeit, Wachstum und Evolution fähig sind. Lebewesen prägen entscheidend das Bild der Erde und die Zusammensetzung der Erdatmosphäre«,liest manbei Wikipedia unter »Lebewesen« und unter Bezug auf wissenschaftliche Werke im Bereich der Biologie.
Für mich besaßen und besitzen immer noch auch Sprachen diese Fähigkeiten: Stoffwechsel, Fortpflanzung, Reizbarkeit, Wachstum und Evolution. Vergessen wir nicht, dass z.B. der Duden in regelmäßigen Abständen sein Wörterverzeichnis aktualisiert, mit Hunderten von Hinzufügungen oder Streichungen.
Nun, ersetzen wir im zweiten Satz der obigen Definition »Lebewesen« mit »Sprachen«, die »Erde« mit »gesellschaftliches Zusammenleben« und die »Erdatmosphäre« mit »menschliche Gesellschaft«.
»Sprachen prägen entscheidend das Bild des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Zusammensetzung der menschlichen Gesellschaft!«
Dann wird die Funktion der Sprache begreiflicher!
(Mahmoud Hosseini Zad)
KLASSISMUS
In Bei uns zu Lande auf dem Lande befinden sich einige Passagen, die mich haben aufhorchen lassen aufgrund ihres verletzenden und herabsetzenden Charakters:
[I]ch befragte meinen Fuhrmann [nach den Wallhecken], einen gereisten Mann, der sogar einmal Düsseldorf gesehen hatte und mich mindestens immer um mein drittes Wort verstand: »oh Herr«, sagte er, »wenn wir keine Wallhecken hätten, was würden wir dann für schelmhaftige Wege haben?« VIVAT WESTPHALIA, dachte ich! – Wir ackerten voran – aus allen Häusern belferten uns Kläffer an, die ich allemal die langhaarigen »Rüden«, die glatten ohne Ausnahme »Teckel« locken hörte. [...] [I]ch suchte nach ein paar Stübern und Matieren, die man mir auf der letzten Station zugewechselt und rief, indem ich sie aus dem Schlage warf: »Habt Acht, Ihr Buben«, da aber nahmen sie Reißaus und wie verscheuchte Hasen krabbelten sie den Erdwall hinan. [...] Einem war beim Ansatz zur Flucht sein Holzschuh abhanden gekommen und ich hörte ihn unter dem Rade ein unzeitiges Ende nehmen; mein Trost waren die herrenlosen Stüber und Matiere, mit denen sich das dicke Henrichjännchen oder Jannberndchen (so heißt hier nämlich immer der dritte Mann) bezahlt machen konnte, wenn dieses nicht außer seinem Gedankenkreise lag. [...] [D]as Land meiner Vorfahren fing an mir mindestens ganz nährend und behaglich vorzukommen, obwohl meine Augen noch immer vergeblich nach dem »Fette der Erde« ausschauten, bei dem die Leute so vollständig runde Köpfe und stämmige Schultern ansetzen konnten.
Der depperte Fuhrmann, die idiotischen Bauern, die ihre Hunde simplistisch immer gleich nennen, die dicken, geistig beschränkten Kinder, welche meist Henrichjännchen oder Jannberndchen heißen und denen man ein paar Groschen aus der Kutsche in den Staub hinabwirft, die rundköpfigen und plumpen Leute im Allgemeinen – Fragmente eines klassistisch gefärbten Blicks auf den ländlichen Raum in Westfalen (→Die Mergelgrube). Klingt das nur in meinen Ohren so? Vielleicht. Immerhin werden die Münsterländer im selben Text als schlaue Viehbauern gewürdigt. In jedem Fall ist das nicht 1:1 der Klassismus Droste-Hülshoffs, sondern ergibt sich folgerichtig aus der Konstruktion des Romanprojekts Bei uns zu Lande auf dem Lande selbst, das sich als Fundstück des Westfalen-Reiseberichts eines Lausitzer Adeligen ausgibt (→WESTFALEN INTERNATIONAL): Die herabsetzende Tönung ist Produkt von Droste-Hülshoffs literarischer Imagination des Blicks eines höhergestellten Zugereisten auf ihre Region. Diese Herabsetzung ist heute empfindlich spürbar und sollte es in der Übertragung auch bleiben.
(Daniel Falb)
KLÄNGE FÜR DEN ORIENT
Übersetzt in eine Sprache des Orients erfahren die Klänge aus dem Orient eine mehrfache Brechung zu der ursprünglichen, orientalistischen: Die erste Brechung bestand – noch vor aller Übersetzung – darin, dass ihr Diskurs sich nicht mit dem der orientalischen Dichtung zu Drostes Lebzeiten deckte: Hier wurde nicht etwa einem Ghasel nachgedichtet, sondern etwas in Form und Inhalt Anderes unter Verwendung von zeitlich und räumlich (ostwärts) entrückten, doch der damaligen Leserschaft hinreichend bekannten oder zumindest einleuchtenden Inhalten geschaffen. Eine zweite Brechung kann man wohl in Annette von Droste-Hülfshoffs spezifischen Handhabung des Orients sehen, die ihre Gedichte von anderen Orientalismen ihrer Zeit unterscheidet – wobei man sehr leicht bei der Diagnostik weiblicher Empfindsamkeit zu landen droht. Eine dritte Brechung liegt für uns Heutigen wie bei jeder Lektüre zeitlich entfernter Literatur vor, in der die räumliche Entfernung des Dargestellten vielleicht eine nachrangige Rolle spielt, denn wir sind gewohnt, dass der Orient in die Welt der Literatur des 18. Jahrhunderts bereits einbezogen ist.
Eine vierte Brechung kommt ins Spiel, wenn die türkische Leserschaft der 2020er Jahre die Klänge aus dem Orient liest. Ihr ist der Orient in der Welt der Literatur wohl bekannt. Seit Beginn eines intensiveren Kulturaustausches mit Europa waren viele Orte im Osmanischen Reich, vor allem die Hauptstadt Konstantinopel, ein beliebtes Reiseziel der Orientinteressierten. Dieses Interesse mochte sachlich begründet sein oder schwärmerische Züge haben – die osmanische Seite nahm zur Kenntnis, dass sie als Teil des Orients zur Kenntnis genommen wurde und machte das so entstandene Orientbild des Westlers (→ORIENT) zu ihrem Selbstbildnis. Dies geschah im Zuge der Verwestlichung des Kulturlebens: Was die Literatur betraf, bedeutete dies die Übernahme europäischer Gattungen wie Roman und Drama zum einen und eine völlige Neuorientierung in der Lyrik in Form und Inhalt zum anderen. Die traditionelle Diwan-Lyrik (→ÜBERSETZEN DER FORM)war zum Ende des 19. Jahrhunderts völlig verabschiedet, ja, in Misskredit geraten, weil sie von jungen, politisch bewegten Generationen sprachlich elitär, ja weitgehend unzugänglich durch ihr ausgefeiltes, mit Anleihen aus dem Persischen und Arabischen überbordendesVokabular, somit auch als volksfern in der Haltung, hermetisch und weltfremd in der Aussage, gekünstelt und klischeehaft in der Form empfunden wurde. So lässt sich vielleicht der Umstand erklären, dass die europäische Erzählliteratur zwar intensiv gelesen und fortgeschrieben wurde, die orientalisierende Lyrik europäischer Autoren jedoch bis heute kaum Beachtung fand.
Die Klänge aus dem Orient bringt uns keineswegs die schöne, tote Diwan-Dichtung näher. Im Gegenteil stellt dieser Zyklus ein Gegenprogramm dazu dar. Er ahmt weder die strengen Formen der Diwan-Dichtung nach, noch verfängt er sich in einer Rosen-und-Nachtigall-Symbolik. Das Orientalische beschränkt sich auf Namen, Orte, Ereignisse, die uns aber nicht von einer entrückten Welt erzählen. So bleibt die Dichterin stets bei sich und rutscht nicht in eine verklärend orientalistische Sicht ab, wobei bei vielen Gedichten sogar kein zwingender Bezug zum Orient zu erkennen ist (→WESTFALEN INTERNATIONAL).Bei sich bleiben – das zeigt sich in der Lust an der Sinnlichkeit (»Und siebenfach gesegnet | Der Sklave, dem du winkest | ... Die Sklavinn, der du lächelst, An ihre Schulter lehnend | Dein unverschleiert Haupt«), im Mitgefühl mit Leidenden (»Mütter auf den dürren Mäulern | Blind geweint die schönen Augen«), Selbstreflexion (»Und alles was ich geschrieben | ... Das ist meines Herzens flammendes Blut«) und ironische Distanz (»Am Flaume mißt er die Winde. | Aber selig des Räubers Loos!«).Damit scheint Droste-Hülshoff Goethe zu folgen, der sagte: »Wer sich selbst und andre kennt | Wird auch hier erkennen: | Orient und Occident | Sind nicht mehr zu trennen.«
Darum können wir wohl sagen, dass Annette von Droste-Hülshoff eigentlich weniger Klänge aus dem Orient importiert hat als vielmehr ihre Klänge, d.h. ihre literarische Haltung, in den Orient versetzt.
(Tevfik Turan)
METER MAID
Meter Maid (m/f/d): Meter maids are very strict. They do not appreciate any excuses as to why you ran out of time or why a certain line is irregular. They simply offer you a citation and tell you to fix the error as quickly as possible or go to court, where none of →THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION are unlikely to side with you. At least not in public. Your only chance to avoid punishment is to consult the other three Horsemen of Poetry Translation in private. You can win over the →FLORIST by saying that iambic pentameter is unnatural and the Florist will like the sound of this argument. But if the Florist turns to the Meter Maid with this gained wisdom, the Meter Maid will ask the Florist to speak in such a meter. The Florist will either mess up or sound like an alien. You see, the Meter Maid will say, you don’t speak like a poem but we’re not translating you, we’re translating a poem and the poem is in iambic pentameter (→JAMBEN GEGEN TROCHÄEN ). You might then try to consult with the →GAMBLER but the Gambler will know better. The Gambler will advise to not bother unless you have a sure fire winner. The Meter Maid is always right, the Gambler will say, except when the →SEMANTICS MAN disagrees. But the Semantics Man is hesitant to argue with the Meter Maid since the Meter Maid rarely wants to ruin the meaning. They just want the syllables to be lined up right. It’s not hopeless, the Semantics Man will say, have you spoken to the Florist?
(Shane Anderson)
METRIK UND REIM
Mit Annette von Droste-Hülshoffs Metrik bei der kurdischen Übersetzung (Kurmancî) mitzuhalten ist unmöglich, da Vokale im Kurdischen entweder immer lang oder immer kurz gelesen werden. Eine Anpassung je nach Zusammenspiel mit Konsonanten findet nicht statt. Es war mir allerdings sehr wichtig, Droste-Hülshoffs Metrik irgendwie beizubehalten oder gegebenenfalls zu simulieren, ohne jedoch die Übersetzung dadurch verkrampft wirken zu lassen. (→ÜBERSETZEN DER FORM, JAMBEN GEGEN TROCHÄEN)
So entschied ich mich, die Reihenfolge von betonten und unbetonten Silben zu ignorieren und mich auf die Silbenanzahl zu konzentrieren – eine Metrik, die besonders in volksnahen Gedichten mit einfacher Sprache ihren Niederschlag fand. Im Gegensatz hierzu steht die Arūd-Form (bestehend aus mehr als 15 Metren wie tawīl, kāmil, basīt, wāfir, ramal usw.), die in elitären Kreisen des Nahen Ostens lange Zeit gebräuchlich war. Ihre 15 Metren sind vergleichbar mit berühmten Versfüßen wie Trochäus, Daktylus, Jambus oder Anapäst.
Die Arūd-Form entwickelte sich ab dem 8. Jahrhundert aus dem Arabischen, setzte sich später ebenfalls im Kurdischen, Persischen und Türkischen durch und wurde individuell angepasst. Aufgrund der unterschiedlichen Vokalstruktur und Betonung der Silben gestaltete sich dies jedoch schwierig. So wurden viele Worte bruchlos aus dem Arabischen übernommen, um die Metrik nicht zu zerstören. So entstanden auch zahlreiche Gedichte in Mischform, bestehend aus arabischen, persischen und anderen Fremdwörtern.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts löste sich die Arūd-Form in kurdischen Gedichten sowie in vielen anderen Sprachen auf, da sie zu kompliziert wurde und auch ihr Vokabular zu dieser Zeit schon nicht mehr geläufig war. An ihre Stelle rückte eine Metrik, die nur auf der Zählung von Silben basiert. Diese diente auch meiner Übersetzung von Droste-Hülshoffs Gedichten. Fehlende Töne habe ich durch Binnenreime oder Endreime ersetzt. Soweit es möglich war, nutzte ich zudem Alliterationen und Assonanzen.
Beispiel:
Silbenanzahl (SA)
SA
Hilweşîna Barmekîyan
SA
…
Ueber Bagdads Thor ein Geyer,
Kreisend über Dschafers Scheitel,
Rauscht hinan, und rauscht vorüber,
Hat zur Nahrung nichts gefunden,
Als, in seiner Augen Höhlen,
Nur zwey kleine Spinnlein noch.
8
8
8
8
8
7
...
Li ser derê Bexdayê sîsarikek
Digere li ser qaqotê Caferî,
Geh difire di ber ra geh di ser ra,
Lê nedît wî ji xwarinê ra tu tişt,
Ne goşt, di şikeftên çavên wî da gişt,
Ji du tevnpîrikên biçûk pê va.
11
11
11
11
11
10
Auch bei den beiden Gedichten Vorgeschichte und Der Knabe im Moor bin ich dem Reimschema von Droste-Hülshoff treu geblieben und habe die Logik innerhalb ihrer Metrik fast zur Gänze übernommen.
Beispiel:
[Reimschema: a/b/a/b/c/c]
SA
Pêşbînî (Dîtina Duyem)
SA
…
Da langsam wenden die Träger, blank
Mit dem Monde die Schilder kosen.
»O«, – seufzt der Freiherr – »Gott sei Dank!
Kein Pfeil, kein Pfeil, nur Rosen!«
Dann hat er die Lampe still entfacht,
Und schreibt sein Testament in der Nacht.
9
9
8
7
9
9
...
Wa dizivirin hêdî hêdî hilgir,
Geş dialînin mertal hîvronê.
»Ox«, kêşa Sergewêr »J’ Xwedê ra şikir!
Tîr tune, tîr tune, gul in bi tenê!«
Piştra rabû bêdeng wî vêxist çira,
Bişev rûnişt, wesyet nivîst ji xwe ra.
11
10
11
11
11
11
[Reimschema: a/b/a/b/c/c/a/b]
SA
Lawikê li Avzêyê
SA
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
9
9
9
9
10
9
9
9
Ax, çûna di avzêyê ra çi saw dike dil’,
Gava mişt dagirtî ye bi mija wê pesarê,
Wekî sepetan badayî hildibe dûkel
Û lavlavk xwe hûnandî misêwa li şafirê;
Ji bin her gavê çavîyek dipijiqe jor,
Gava bi hîsehîs û fişefiş distre şaxor.
Ax, çûna di avzêyê ra çi saw dike dil’,
Gava ku ba qirçîn dibe ji zilan li ser rê’!
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Nur so konnte ich den Geist ihrer Gedichte treffend wiedergeben – ein perfektes Zusammenspiel aus Form und Inhalt. Diese Anpassung in Reim und Metrik hat viel Kreativität und Anstrengung erfordert (→METER MAID, THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION), aber es hat sich gelohnt und viel Freude bereitet.
(Şahin Kürküt)
MOORTOPF
Und als wir das Stadtmuseum verlassen, steigen alle wieder ins Auto, die Droste am Steuer, der Größte auf dem Beifahrersitz, die anderen drei auf der Rückbank (→THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION). Wir fahren auf eine Formation zu, die ich zunächst für einen Berg halte. Es ist aber eine große Wolke, dunkel und undurchsichtig wie Gestein (→Die Mergelgrube) und wir fahren mitten da hinein. Ist das Standlicht?, frage ich. Droste schaut mich im Rückspiegel an, verneint. Wir sind umwirbelt. Droste lacht. Dann kommen erste Blitze. Scheu, als zitierten sie das Unwetter nur, deuteten es an. Erste Böen rütteln am Fahrwerk, der Vers kommt ins Holpern. Auf den Donner warten, der knallt. Knallt wieder – ein reelles Unwetter, das sein Handwerk versteht. Hier ist der Umbruch, die Zeile reißt uns aus. Die Scheibenwischer kollabieren, die Windschutzscheibe vollkommen verschmiert, wie mit Soße übergossen. Ist das der finale Kampf? Die Droste ganz versonnen, ihre Hände ruhen auf dem Steuer. Sie kennt offenbar den Weg und es dauert nicht lange, dann kommen wir an, an einem Ort, der nach Pferden riecht, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Ist das etwa England? Sind wir durch ein Wurmloch gefahren? Durch einen so genannten Moortopf, Wurmloch Westfalen (→WESTFALEN INTERNATIONAL)? Wir steigen aus, gehen die Treppen hinauf, in ein Restaurant, das nach einer heruntergekommenen Traber-Kantine aussieht. »Willst Du nachher meine unsichtbaren Tattoos sehen«?, fragt mich Droste, und ich sage etwas wie »hm, vielleicht«. Sie hält mir sofort ihren Unterarm vor das Gesicht und sagt: »Lies: Jede Sprache ist eine Suche nach Gott.« Ich kann nichts sehen, auch nicht erkennen. Später: Flambierte Prinzessinnenpasteten, Courtesy of Junikäfer. Von summendem Gewürm und Fliegenvolke. So langsam schüttelnd den gefüllten Bauch. Mit Zimt, Koriander, Nelke und Orangenschale (→Der Barmekiden Untergang) – und einer aufgeschlagenen Creme, die sie hier etwas apokryph »Hummerschaum« nennen. Und fester drückt’ ich meine Stirn hinab, wollüstig saugend an des Grauens Süße. Dann noch einen Kräuterschnaps, über Fossilien in ein vorgekühltes Glas gegossen und Hopplahopp: Zurück! So viel Arbeit, die noch nicht gemacht war. Auf dem Rückweg brannte die Böschung, es hatte seit Jahren nicht mehr geregnet. Wir kamen zurück, in Zimmer, die wir nicht mehr wiedererkannten. Doch die Arbeit war noch da.
(Aus dem Moortöpfigen von Monika Rinck)
NICHT DAS BEKANNTE GESPENST
Eine Fußnote in Der Haidemann: »Hier nicht das bekannte Gespenst, sondern die Nebelschicht, die sich zur Herbst- und Frühlingszeit Abends über den Haidegrund legt.« What? But it is not, aber nicht der bekannte [behelmte] Lunatic Man – but the NEBEL [fog]. What a weird footnote. Diese spontane Abwehr ist eigentlich ein Hinweis darauf, dass es doch der Lunatic Man sein muss, oder?
(Monika Rinck)
ORIENT
Was hat sich wohl Annette von Droste-Hülshoff unter dem Wort »Orient« vorgestellt? Wie kam es zum Gedichtzyklus Klänge aus dem Orient? Was hat ihr Orient mit der Wirklichkeit des Orients in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu tun, kurz nach Napoleons Ägyptenfeldzug? Ihr Orient hat nicht viel zu tun mit dem realen Orient ihrer Zeit (→DROSTES KOPFKINO).
Ihr Orient mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht(→TAUSENDUNDEINE NACHT) ist mir als Araberin sehr vertraut. Deshalb konnte ich mich gleich in die Phantasie von Annette von Droste-Hülshoff hineinversetzen.
Sie war sehr heimatverbunden (→KARTOFFELN IN DER SCHAALE) und lebte in einem Zeitalter ohne Internet, Auto und Flugzeug. Wie Johann Wolfgang von Goethe war auch sie niemals im Orient gewesen. Beide wagten, mit Sindbad dem Seefahrer in ihrer Phantasie in fremde Gefilde zu reisen. Der typisch verklärte Blick des Okzidents auf den Orient, den Edward Said in seiner Studie Orientalismus kritisiert? Das typische Bedürfnis, die eigenen Sehnsüchte zu projizieren? Einen Zufluchtsraum für die eigene Phantasie zu suchen und zu finden? Ja und?
Mich erinnern einige der Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs in ihrer Schwermut an Virginia Woolfs Werke, dieselbe Düsterheit und derselbe Schmerz bei Käthe Kollwitz. Texte wie Bilder, die das Elend der Menschen, ihr Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen. So wie die Orientgedichte von Annette von Droste-Hülshoff über den verschwundenen Fischer, die trauernde Mutter, die tot am Boden liegenden Vögel – die Nachtigallen für den Orient, die Lerchen für den Okzident –, alle drücken etwas Tiefmenschliches, Allgemeingültiges aus, überall, im Norden wie im Süden. Im Orient wie im Okzident.
Bei der Übersetzung der Gedichte begleitete mich allerdings stets eine Schwierigkeit. Die Exotik im Originaltext in seinem damaligen Zusammenhang kann niemals ins Arabische übertragen werden. Weder damals noch heute. Das gilt zum Beispiel für die Wörter »Moschee« und »Muezzin«, die damals den meisten Deutschen unbekannt gewesen sein dürften. Aber ist das wirklich ein Verlust? (→KLÄNGE FÜR DEN ORIENT)
(Kaouther Tabai)
ROMANTIK RANTS
Wer »Romantik« mit »Genick« reimt wird, wie Droste in ihrem Gedicht Das alte Schloß, macht keine Gefangenen. Die Dichterin hatte nicht allzu viel übrig für »die krausen Märchenbilder Arnims und Brentanos« und tat zeitlebens nichts lieber, als sich von »einer gewissen romantischen Schule« zu distanzieren. Zu viel Traum, zu wenig Realitätssinn, könnte man ihre Kritik an der Romantik zusammenfassen. Eine besondere Rechnung hatte sie mit ekstatischer Naturdichtung offen. Während sie selbst in ihrer Naturbeobachtung mit quasi-wissenschaftlicher Präzision vorging und auch nicht davor zurückschreckte, die Leser*innen ihrer Gedichte mit pedantischen Fußnoten zu Pflanzennamen zu langweilen (vgl. ihr Gedicht Instinkt), hatte sie keinerlei Geduld für Naturschwärmerei. In Dichters Naturgefühl lässt sie ein eher prosaisches Ich miesepetrig durch Pfützen stapfen, »[d]ie wie verkühlter Spüligt stehn«: Seiner Grantigkeit fällt nicht nur die Natur, sondern auch ein blonder Jüngling namens Friedrich zum Opfer, der das Pech hat, zur falschen Zeit am falschen Ort »seine achtzehn Jahre / Romantisch in den Lenz hinaus« zu tragen – und die Natur zu besingen. Man kann Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer förmlich ertappt zusammenzucken sehen. O ja. Sie hat ihn erwischt: Viel Nebel, nichts dahinter. Droste-Hülshoffs großer Auftritt ist in jedem Naturgedicht das abrupte Ziehen der Reißleine, nachdem ein Vers kurz am Pathos entlangschrappte. Das in große Gefühle versunkene, träumende Ich wird – Zack – eingefangen und unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen abgestellt, vorzugsweise wie in Die Mergelgrube, durch einen Socken strickenden [sic!] Hirten. Oder durch die Tatsache, dass man eben doch kein Mann ist und sich mal eben zu einem romantischen Abenteuer aka geistigen Höhenflug aus dem Staub machen kann – sondern eine Frau, der das 19. Jahrhundert sehr klare Grenzen setzte (→GENDER TROUBLE). In Am Thurme – ebenso wie Das alte Schloß vom neoromantischen Schloss Meersburg inspiriert –, outet sie sich dann doch als verkappte Romantikerin: Am Ende lässt das lyrische Ich – Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig – sein Haar flattern, nur eben heimlich.
(Anneke Lubkowitz)
SELTSAME ENDEN
Es gibt bei Droste-Hülshoff pointierte und logische Gedichtenden – ich denke an →Die todte Lerche oder →Der Knabe im Moor –; es gibt bei ihr aber auch seltsame Enden. Enden, bei denen man nicht weiß, warum das Gedicht da aufhört und was das soll. Was soll es zum Beispiel, wenn es von der Lerche, der »junge Fürstin« des Waldes, der das Gedicht Die Lerche wie ein Trickfilm groß aufspielt und für die sich alle Pflanzen morgens hübsch machen, für die alle Insekten im Orchester musizieren, und der die Spinne ein »duftiges Elfenkleid« gewebt hat, am Ende lapidar heißt:
Die Wolke dehnte sich, scharf strich der Hauch,
Die Lerche schwieg, und sank zum Ginsterstrauch.
Die Lerche schwieg?! Wozu dann der Aufwand?! Macht sich das Gedicht über sich selbst lustig? Warum das Bezugsgewebe des Walds pittoresk aufblättern, wenn die Hauptperson dann gar nicht mittut? Fürstin ohne Auftrag? Droste-Hülshoff gelangweilt? Weniger abrupt, aber auch in einer Art Selbstboykott, endet Abschied von der Jugend. Denn der Trost, den das Gedicht sich und uns am Schluss für den Verlust der Jugend spenden will, geht völlig daneben:
Und doch ist des Sommers Garbe
Nicht geringer als die Blüten,
Und nur in der feuchten Scholle
Kann der frische Keim sich hüten;
Über Fels und öde Flächen
Muss der Strom, dass er sich breite,
Und es segnet Gottes Rechte
Übermorgen so wie heute.
»Nicht geringer« – OK, das klingt nicht sehr überzeugt... Schön auch, dass der feuchtgeweinte Boden angeblich gut zum Wachsen sein soll. Dass der Fluss erst durch karge Landschaft muss (jetzt), bevor er sich dann angeblich wieder breitet: ein draufgepappter Durchhaltespruch. Auch Gottes generischer Segen hat der konkreten Situation nichts Spezifisches zu geben. Ist das Droste-Hülshoff einfach verrutscht (→HYPOTAXE)? Oder doch bewusster, performativer Ausdruck der Untröstlichkeit im Angesicht der verlorenen Jahrzehnte? Seltsam so oder so! Auch der Schluss von Das alte Schloß, in dem der Bewohner eines Ruinenschlosses riskant im alten Gemäuer herumturnt (→ROMANTIK RANTS):
Ja, wird mir nicht baldigst fade
Dieses Schlosses Romantik,
In den Trümmern, ohne Gnade,
Brech’ ich Glieder und Genick;
Denn, wie trotzig sich die Düne
Mag am flachen Strande heben,
Fühl’ ich stark mich wie ein Hüne,
Von Zerfallendem umgeben.
Das ist doch unlogisch: Dass sich hier jemand stark fühlt im Vergleich mit Zerfallendem und Trümmern (was selbst schon platt und ziemlich konstruiert klingt...), wenn es kurz davor noch hieß, er würde sich an eben diesen unweigerlich »Glieder und Genick« brechen? Auf den Adel (→KLASSISMUS) insgesamt bezogen sogar noch unlogischer, dass er ausgerechnet aus dem Zerfall seiner Besitztümer ein Stärkegefühl beziehen soll. Aber vielleicht ist der Punkt ja, dass das Gedicht die wörtliche Rede von jemandem vorführt, über dessen Idiotie es sich kaputt lacht! Dass es am Ende genau in Form dieser Unlogik die Karten auf den Tisch legt und seine Affiliation offenlegt.
Ich weiß es nicht... Geglättet werden sollten die schönen Seltsamkeiten in der Übersetzung jedenfalls nicht. Ich denke, man sollte sie spüren, artikulieren, eher noch überbetonen als wegtexten.
(Daniel Falb)
SEMANTICS MAN
Semantics Man (m/f/d): (one of →THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION) the Semantics Man is passionate about ensuring the fidelity of the translation to the lexical meaning. They say, let’s look at the original. And: let’s go step by step. They put the complicated twists and turns of the original into plain language. They are particularly adept at unbending a coat hanger and turning it into a key. They ask: am I understanding this correctly? Or: it’s complicated, but wouldn’t we have to understand it like this? They look up difficult words, they find sources for what the text might be referring to. They say things like: who or what is speaking and what is being addressed? They listen to the →GAMBLER when the Gambler tries to swap out a word at the end of the line to create a jazzier rhyme. Then they remain silent while the →METER MAID and the →FLORIST argue with the Gambler since such a change would ruin the whole arrangement. The →SEMANTICS MAN never gets too involved unless the agreed upon arrangement creates confusion. The Semantics Man is not against confusion if the text is confusing (→SELTSAME ENDEN, →HYPOTAXE) but the Semantics Man doesn’t want any new levels of confusion to be added. Especially out of foolhardiness, laziness, stupidity or lack of one’s own clarity. The Semantics Man is aware of his one Achilles heel, their desire to explain everything. This is why the Semantics Man is often silent and only interrupts when everything is getting a little crazy.
(Shane Anderson)
SPUK UND SCHNAPS
Folgende Konflikte needeten Superwischen: Mind/Soul. Sagen wir »mind«, oder sagen wir »soul«? Meint ihr nicht mind? Mind hätte sich nämlich sogar gereimt. Nein, es ist Soul. Wohl ist es Soul. Are you sure? Ja, ich bin sure. Dann müssen wir schauen, dass wir was finden, das im Rhythmus bleibt und doch auf Seele reimt.
No, Gespenster are unlike gute Geister (→NICHT DAS BEKANNTE GESPENST). Jedes Mal, wenn ich Geist als Spirit übersetze, kommt Mind angerannt und bringt sich erneut ins Spiel. Spirit hat doch immer etwas von Spuk. Von Spuk und Schnaps. Genau. Besoffene Wiedergänger. Spiritistische Sitzungen. Klappernde Läden. Wie heißt es denn bei Hegel? Moment: »The Phenomenology of Spirit (or The Phenomenology of Mind), published in 1807.« Dankeschön, Spirit oder Mind. Ich denke: Spirit ist gebräuchlicher. Sicherlich ist Spirit gebräuchlicher als Mind. Harharhar. Nicht wie Du meinst. Spirit on my mind. (→SPUK UND SCHNAPS)
(Monika Rinck)
TAUSENDUNDEINE NACHT
Die Arbeit an der Übersetzung der Klänge aus dem Orient regte mich zum Nachdenken und Weitersuchen an. Weitersuchen nach einer Antwort auf die Frage, die ich schon bei dem ersten Gedicht, Der Barmekiden Untergang, mir zu stellen begonnen habe: Als was übersetze ich diesen Zyklus? Als einen kleineren Divan (→ÜBERSETZEN DER FORM)? Oder als eine Inspiration von Tausendundeine Nacht? Wie lassen sich diese Quellen gewichten?
Der europäische Leser bzw. die europäische Leserin bekam erstmals 1704 Tausendundeine Nacht in die Hand, in einer französischen Übersetzung. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1824. Der Diwan des persischen Poeten Hafis (auch: Hafez) erschien 1812 in der Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall. Johann Wolfgang von Goethes West-östlicher Divan wurde 1819 veröffentlicht. 1822 erschienen in Leipzig die Oestlichen Rosen, darunter auch Hafis’ Gedichte, in der Übersetzung von Friedrich Rückert. Und noch viel mehr Literatur zum Orient erschien in dieser Zeit. Anscheinend war es damals hip, und nicht nur in der Literatur, auf dieser orientalischen Welle zu reiten.
Laut einem Brief Droste-Hülshoffs an den Verleger Christoph Bernhard Schlüter vom Juli 1838, in dem sie nach dem Verbleib ihrer Gedichte fragt, müssen die Klänge um diesen Zeitraum herum fertiggestellt gewesen sein. Die Quellen, in denen ich als Vorbereitung für die Übersetzung der Klänge geblättert habe, beschreiben die Dichterin als eine belesene Frau. Auch in unseren Online-Besprechungen wurde betont, Droste-Hülshoff sei eine leidenschaftliche Leserin gewesen, so leidenschaftlich, dass sie selbst die von ihrem Vater als verbotene Lektüre versteckten Bücher heimlich gelesen haben müsse (→DROSTES KOPFKINO).Sie bewegte sich auch mühelos in der Welt der englischen und französischen Literatur. Es ist also vorstellbar, dass sie all die genannten orientalischen Werke gelesen hatte, und bestimmt noch viel mehr auch an Werken und Übersetzungen aus der Zeit vor Goethe.
Und dann schrieb sie die Klänge. Warum? Wollte sie etwa mitschwimmen? Deponierte sie in dieser düsteren Exotik Ängste, Alpträume, Wut – und wenn ja, wessen? Beabsichtigte sie, eine weibliche Antwort auf Goethes Werk zu geben?
Wie lässt sich dann aber die in dem Aufsatz Grenz-Rede von Martina Wagner-Egelhaaf (2018: 153) formulierte These: »Die Klänge aus dem Orient führen […] einen genauen Dialog mit dem West-östlichen Divan« mit dem Einfluss jener legendären »Tapete« im Rüschhaus in Einklang bringen? In ihrem Aufsatz ›Flirrende Spiegel‹ beschreibt Mirjam Springer (2008: 151f.) deren Anblick so: »Vom Kanapee aus ließ sich eine märchenhafte Hafenszene betrachten: Ein orientalisch gekleideter Mann mit Wasserpfeife steht inmitten gelöschter Ladung. Fässer, Kisten, Ballen lassen den fremdländischen Inhalt nur vermuten.«
Ähnlich Märchenhaftes habe ich auch über Droste-Hülshoff selbst gelesen. Ihr Herausgeber Levin Schücking beschrieb sie so: »Diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende, bis zur Unkörperlichkeit zarte Gestalt hatte etwas Fremdartiges, Elfenhaftes; sie war fast wie ein Gebilde aus einem Märchen.« Und? Die Tapete finde ich treffender!
Eine elfenhafte, dahinschwebende Unkörperlichkeit, die eine riesige Bibliothek gelesen und studiert hat, die in damaligen Literatursalons zu Hause war, lässt sich von einer Abbildung auf einer Tapete begeistern, wohl, weil sie dort »ihren Traum« wiederentdeckt hat? An der Wand findet sie ihren Wunschtraum und in Tausendundeiner Nacht ihre Welt. In Tausendundeiner Nacht, und nicht in Goethes Divan, nicht in Hafis’ Diwan mit seiner himmlischen Poesie.
Alle 25 Klänge, als Prosa geschrieben, finden auf drei DIN-A4-Seiten Platz, und in diesem kleinen Umfang kommen unzählige Male Begriffe vor, die man fast nie in Hafis’ dickem Diwan findet oder in Goethes. Dschinn, ein Pascha, Mekka, Kamele, Wüsten, Geier, Tore, Galgen, Henker, Harun Al Raschid, die Barmekiden, Jaafar, Hassan, Maimuna, Zillah, Sklaven, Sklavinnen, ein Kaufmann, Gärtner, Huri, Piraten, Seeräuber, Basra, Kairo, Prinzessinnen …
Voll von Bildern aus den Märchen, die ich als Orientale schon in meiner Kindheit kannte(→ORIENT, KLÄNGE FÜR DEN ORIENT). Gar keine Spur von Hafis’schen bzw. orientalisch-poetischen Bildern, Weltanschauungen, Begriffen und Poesie, mit denen ich als Iraner schon seit meiner Kindheit vertraut bin, keine Spur von der exotischen Nüchternheit eines Goethe, die ich später kennenlernte.
Diese 25 Gedichte haben Wurzeln in den finsteren Ecken von Tausendundeiner Nacht (→DROSTE GOTH).
Wie gern würde ich meine Übersetzung »Klänge aus der Einsamkeit« betiteln!
(Mahmoud Hosseini Zad)
THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION
The Four Horsemen of Poetry Translation do not need to be feared. They do not arrive to invoke conquest, war, famine, disease or death. Yet, they are prepared to argue. And argue they will. With one another, and with you, the Translator. They will make you feel bad about your decisions. They will ridicule those places where you didn’t pull through. There may be tears. Perhaps even harsh words. And embarrassment. But, you should be grateful. This is because the Four Horsemen of Poetry Translation have come to help you with a seemingly simple question; namely, who or what are you true to? It is a difficult question that every Translator frets over. “The text” is often the Translator’s simple answer, but almost all of them know that this answer is not yet acceptable.
The Translator tends to believe in fidelity, even when they say that such a thing is impossible. This is noticeable since most Translators stick as close to the original as possible. Even those Translators who talk about the importance of open relationships and gallivanate with other texts come back to the original, at least to check in. They were worried about the text and deep down they are loyal. They’re reliable people who worry about the impossibility of transferring a text from one language into another. How it will fend in such alien environs? Will it make sense to the others? They aren’t sure and this lack of certainty also makes them worried.
Still, the Translators are also foolish and brave, trying to undertake this Quixotic task anyway. This is because they truly love the text they’re translating and they believe that everyone should read it. They admit the text is difficult. But then, every text poses so many problems. Especially in translation and its act.
Should I remain true to the semantic and/or lexical meaning of the text? Or should I focus more on its form, its sound, its feel? Do I use words that are properly antiquated or do I update the text into contemporary language? Do I erase the colonial terms of old texts or do I possibly offend contemporary readers and just defer to ‘the truth of what the text says’?
Translators tend to lack fingernails, they’ve bitten them all off while lost in thought. Some of the translators’ favorite words are “difficult,” “tricky,” “hmmm, what do you think?” and “Lord help me.” They say “let me sleep on it” but rarely get a full night of sleep. And if they’re lucky, if they’ve prayed hard enough for assistance, that’s when the Four Horsemen of Poetry Translation enter.
The Four Horsemen of Poetry Translation don’t look very remarkable. They don’t wear armor or carry any weaponry, they’re not even on horses. Instead, the →Semantics Man , the →Meter Maid , the →Florist , and the →Gambler approach the Translator with four separate matrixes, four separate lists of questions, and four separate elements to consider. The translator would do well to listen to each one in private, since it’s an intense workout when all Four Horsemen are working with the Translator at the same time. It’s like skipping rope while reciting the Cyrillic alphabet backwards and raising your eyebrows one after another. The Translator is exhausted after such a session but listens to each of the Four Horsemen so as to be as true to the text as possible. Rarely are the Semantics Man, the Meter Maid, the Florist and the Gambler equally happy with the results but they are more than willing to compromise. Such a decision must never be out of laziness though. The end results must serve some greater purpose. They must serve the greater fidelity to the text.
(Shane Anderson)
THE SAUERLÄNDER
What about the SAUERLÄNDER? Das ist ein Schimpfwort. Heute sicherlich it is. Aber damals? Sollen wir den »Sauerländer« einfach stehen lassen? Auf keinen Fall. Warum denn nicht? Im Leben nischt. But »Sauerländer« translates as »Munsterlander«. Then take »Munsterlander« – Yes, but »Munsterlander« is a dog! Then keep »Sauerländer«. What other options would there be? Das ganze nächste Jahr: blickt in den Februar. Hier steht nichts mehr geschrieben. (→WESTFALEN INTERNATIONAL)
GLOSSAR-FRAGMENT
I like rock.
I do like crags.
It's only in the Sauerland.
The strengths of ending in the monumentally dull …
Doesn't the? Whom?
Ameisenvolk, Du machst es Dir zu schwer!
(Monika Rinck)
TRAUMGLOSSAR
wenn ich übersetze, übersetze ich tag und nacht, bis ins reich der träume verfolgen mich die nöte und ängste des übersetzens, die freude und pein über ein gelungenes oder unzulängliches wort. tief in der nacht suche ich den namen einer straße, die niemand kennt, probiere ich vergeblich, geschriebenes auf mannshohen seiten zu entziffern, liegen mir die wörter auf der zunge, kursiviere ich bestimmte zeilen und sätze, entdecke ich an der wand eines kellerraums das schwarzweißnegativ eines briefes, habe ich schwierigkeiten, die wörter liebhaben und buchstabieren auszusprechen.
01. mai, traum – ein heller raum mit einer bar. alles ist sauber und funkelt. die sonne scheint durch eine geöffnete tür. ein hund läuft über den tresen. über den äußersten rand. auf der grenze des möglichen oder des erlaubten. sein fell erinnert an eine katze. schwarzweiß gefleckt. das schwarz wird immer dichter und glänzender. alle bewundern dieses fell. der hund ist sehr schnell. während er rennt, wird er älter. als ich näherkomme, verändert sich das schwarz in braun. die braunen flecke marmorn. und der hund ist größer, plumper, gemütlicher, kein flitzen mehr wie zuvor. ich rufe »schröter«.
da plötzlich fuhr ein plumper schröter jach, vierter vers der vierten strophe in der hünenstein. schröter = hirschkäfer (nl. vliegend hert, fliegender hirsch). ich habe mich in den namen vliegend hert verliebt. in das schöne bild: oberkiefer wie geweihe. fliegender hirsch klingt flotter als schröter. ich kann den fliegenden hirsch nicht loslassen. aber er bricht das versmaß, fliegt über die grenze des möglichen, erlaubten. doch der traum weckt in mir auch sympathie für den plumperen, gemütlicheren schröter und ich entscheide mich für das ebenfalls gemütlichere niederländische käferwort: tor.
(Annelie David, aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek)
ÜBERSETZEN DER FORM
Die Gedichte im Zyklus Klänge aus dem Orient von Annette von Droste-Hülshoff sind in Bezug auf die äußere Form schlicht gehalten. Sie sind keine langen Gedichte (das längste, Der Barmekiden Untergang,misst nur 51 Zeilen in zehn Strophen), sie bestehen aus kurzen Zeilen (mit meist vier Hebungen), die bei längeren Gedichten überschaubar in Strophen gegliedert sind. Es ist eher selten ein Versfuß über das ganze Gedicht eingehalten, Reime fehlen sogar völlig. Damit kann die Form der Klänge den Freien Rhythmen zugeordnet werden, die auf dem europäischen Boden seit Klopstock bekannt war.
Anders als beim Übersetzen etwa ins Englische (→JAMBEN GEGEN TROCHÄEN) haben wir beim Türkischen eine grundsätzliche Schwierigkeit: Der Baustoff des Rhythmus sind nicht die Hebungen und Senkungen, da die türkische Sprache keinen so energischen Wortakzent und keine ausgeprägt langen und kurzen Silben kennt. Daher ist das metrische Schema nicht durch die Reihenfolge und Gruppierung der Hebungen und Senkungen definiert, sondern es zählen alle Silben einer Zeile, gruppiert durch Zäsuren.
Dieses silbenzählende Versmaß bot sich für Die Klänge aus dem Orient an. Die moderate Länge der Originalzeilen konnte in 7 (4 + 3), 8 (4 + 4), 11 (4 + 4 + 3) oder 12 (4 + 4 + 4) Silben wiedergegeben werden. Nicht immer fiel eine Zäsur mit einer Wortgrenze zusammen, doch dies ist in der in türkischer Sprache entstandener Lyrik auch nicht anders.
Während diese Metrik für die Volksdichtung und die moderne Dichtung ohne weiteres gilt, verwendete die Hofdichtung die – vielen Literaturen des Vorderen Orients gemeinsame – Metrik Aruz (→METRIK UND REIM). Hier wurden nach kurzen/offenen und langen/geschlossenen Silben unterschieden und mit Versmaßen geschrieben, denen bestimmte Kombinationen von beiden Silbenarten zugrundelagen. Diese Literatur wird Diwan-Literatur genannt – in einem doppelten Sinn: Der Diwan war das Hauptwerk eines Dichters, das einen festgelegten Aufbau nach Gattungen aufwies. Das persische Wort ›Diwan‹ hat aber auch Bedeutungen, die sich auf den Herrschaftsbereich der Sultane beziehen (Ratssitzung, Audienz). Die Gedichtesammlung Diwan entstand für einen Adressatenkreis um den herrschaftlichen Diwan, der hochgradig mehrsprachlich (Arabisch, Persisch, Türkisch) und in Form und Inhalt auf eine besondere Ästhetik eingeschworen war.
Daher kamen bei der Übersetzung die Formelemente dieser Diwan-Literatur nicht in Betracht – aus mehreren Gründen: Erstens hatte die Autorin nicht die Form der klassischen Diwan-Gattungen wie Qasida oder Ghasel nachzubilden versucht, sondern sich eher den zeitgenössischen Freien Rhythmen zugewandt. Zweitens hatte sie sich nicht am traditionell festgelegten Gehalt der orientalischen Dichtung orientiert, sondern auch hier persönliche Freiheit in der Auswahl und Bearbeitung ihrer Inhalte walten lassen. Der dritte Grund hat etwas mit den Rezipienten der Übersetzung zu tun: Das Aruz-Maß war (samt der Diwan-Ästhetik) bereits spätestens Ende des 19. Jahrhunderts obsolet geworden. Während einerseits auf der Inhaltsebene ihre Weltfremdheit kritisiert wurde, empfand man sie auf der Formseite zu einengend. Während man sich stark von den arabischen und persischen Elementen in der Sprache ab- und immer stärker dem »reinen« Türkischen zuwandte, zeigte sich immer deutlicher, dass ein Versmaß, das sich auf die Länge der Silben stützt, nicht gut auf die meist kurzsilbige türkische Sprache anwenden lässt. Dies war im Grunde schon immer ein skurilles Spiel: Brauchte man eine lange Silbe an einer bestimmten Stelle, sprach man dort den kurzen türkischen Vokal lang, oder man fügte bei Bedarf einen Vokal einfach hinzu, um eine kurze Silbe zu gewinnen usw.
Nicht zufällig erscheinen die türkischen Freien Rhythmen erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Erneuerung der Literatur mit neuen Gattungen, neuer Orientierung im Gehalt und einer Diskussion über die Funktion der Literatur. In der Lyrik wurde zunächst mit freien Kombinationen der Aruz-Versmaße, später nur noch im silbenzählenden Versmaß der Volksdichtung geschrieben und vom Beginn des 20. Jahrhunderts an einer Lyrik ganz ohne Metrik (und Reim) experimentiert. – So ›modern‹ sollte jedoch meine Übersetzung nicht wirken. (→METER MAID, THE FOUR HORSEMEN OF POETRY TRANSLATION)
(Tevfik Turan)
UNGEHEUER BIS MEGA
Was hast Du denn da als »tremendously« übersetzt? Eh, wait: »ungeheuer«, und zwar hier: »besonders Auguste, die schon ganz ältlich und verkümmert davon aussieht, – überhaupt gar nicht hübsch – ins Häßliche die Mutter – aber ungeheuer gut, und stellt gebildet vor, – ich leihe ihr Bücher« – »especially Auguste, who already appears quite stricken and wizened from it, – and not beautiful at all – nearing on the mother’ ugliness – but tremendously good, and gives an educated impression, – I loan her books«. Das »tremendously« kommt mir hier gerade ein bisschen zu modern vor, oder?
Wait, wait, where is my British Library Card: »1630s, ›awful, dreadful, terrible‹, from Latin tremendus ›fearful, to be dreaded, terrible‹, literally ›to be trembled at‹, gerundive form of tremere ›to tremble‹. Hyperbolic or intensive sense of ›extraordinarily great or good, immense‹ is attested from 1812, paralleling semantic changes in terrific, terrible, dreadful, awful, etc.« [Online Etymology Dictionary] (→FLORIST)
You see, tremendous has just CHANGED. Sie ist voll modern. Sie meint also »mega« – voll neu. Auguste? Hässlich, aber meeega gut.
(Monika Rinck)
WESTFALEN INTERNATIONAL
Weniger Glossar-Eintrag als Zitat:
Ich habe mich nicht eben allzuweit umgesehen, doch immer weiter, als mir lieb ist. Es gibt keine Nationen mehr, sondern nur Kosmopoliten und sowohl Marqueurs als Bauernmädchen in fremdländischen Kleidern. Französische und englische Trachten kann ich auch zu Hause sehen, ohne daß es mir einen Heller kostet. Es macht mir wenig Spaß einer Schweizerin mit großen Hornkämmen in den Haaren fünf Batzen zu geben, damit sie sich in ihre eigene Nationaltracht maskirt oder mir für die nächste Bergtour Tags vorher einen Eremiten in die Klause zu bestellen. (aus: Joseph. Eine Criminalgeschichte)
Abgesehen davon, dass das ein sich selbst kochender →MOORTOPFsagt: Irgendwie habe ich an diese Passage immer wieder als sinnbildlich für das Trans|Droste-Projekt insgesamt gedacht. Weil das Übersetzen voraussetzt, dass es wenn auch keine »Nationen« so doch weiter diverse »Nationalsprachen« gibt; und weil andererseits das Übersetzen für mich der kosmopolitische Akt schlechthin ist (wie das Einführen »fremdländischer Kleidung«). Damit aber eigentlich die Überwindung aller Nationalsprachen vorbereitet, und so sein eigenes Ende (→SELTSAME ENDEN).Dann gibt es in dem Zitat auch das Tourismus-Moment, das für unsere Übersetzungen (zumindest im Kontext von Droste Landschaft : Lyrikweg) konstitutiv ist, denn wir übersetzen ja für Münsterland-Tourist*innen. Und nicht zuletzt das Schaustellerische alles Regionalen und Traditionellen (→THE SAUERLÄNDER): Es geht ja, wenn ich das richtig verstehe, genau darum, dass Droste-Hülshoff nicht sozusagen die in Nationaltracht maskierte »Schweizerin mit großen Hornkämmen« am Rande einer Wanderradtour sein soll, und die Welt in den Übersetzungen kein bezahlter Eremiten-Darsteller »in der Klause«. Sondern ein Terrain, in dem man sich »immer weiter, als mir lieb ist«, umsieht.
(Daniel Falb)